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Pflegereform: Warum Pflege daheim nicht die einzige Lösung sein darf

Anfang 2020 war die neue Pflegereform das erste große Projekt von Türkis-Grün. Schon im Jänner war im Regierungsprogramm die Rede von einem „Pflege-daheim-Bonus" für pflegende Angehörige - also etwa ein pflegefreier Tag pro Monat als Unterstützung. Dann aber brach die Corona-Pandemie aus und Pflegekräfte standen auf einmal im Zentrum des Geschehens. Ihre Arbeitsbedingungen und ihre Einkommen waren freilich schon vor der Krise schlecht.  

Im Oktober fiel doch noch der Startschuss für die längst überfällige Pflegereform. Gesundheitsminister Anschober kündigte einen Fahrplan bis Jänner 2021 an. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wahrscheinlich, dass die Pflege-daheim-Bestrebungen vom Frühjahr dabei eine große Rolle spielen werden. ÖGB-Pflege-Expertin Martina Lackner hat im Gespräch mit oegb.at die wichtigsten Antworten dazu.  

ÖGB: Warum liegt der Fokus der Regierung auf der Verlagerung der Pflege daheim?

Martina Lackner: „Ganz einfach: Weil es auf den ersten Blick billiger ist. Aber das ist nicht gut genug, um so eine wichtige Reform zu argumentieren. Grundsätzlich hat der ÖGB nichts gegen die Pflege daheim, aber die Rahmenbedingungen müssen passen. Für die zu Pflegenden sollten viel mehr Wahlmöglichkeiten geschaffen werden. Denn schlussendlich sind sie es, die entscheiden sollen, was sie wollen."

Wie könnte man die Pflege daheim besser gestalten?

„Es braucht mehr Unterstützung und finanzielle Zuwendung in diesem Bereich. Um pflegende Angehörige zu entlasten ist ein Ausbau von mobilen Diensten, Pflegeheimen, Tageszentren, alternativen Wohnformen und Palliativeinrichtungen in ganz Österreich notwendig. Auch eine Qualitätssicherung in der Arbeit oder die Ausweitung der sozialen Dienste und mehr Institutionen, die bei der Pflege helfen, sind von Bedeutung. Wenn wir nur darauf schauen, was billiger ist, dann wird sich das irgendwann rächen."

Wenn wir nur darauf schauen, was billiger ist, wird sich das irgendwann rächen 

Martina Lackner

Wie sieht die Lage denn zurzeit aus?

„Momentan ist es so, dass 40 Prozent der zu Pflegenden von Angehörigen betreut werden – und das Leisten mit großer Mehrheit Frauen, von denen viele selbst kurz vor dem Pensionsalter oder knapp 60 Jahre alt sind. Was wir nicht vergessen dürfen: Pflege und Betreuung sind körperlich und psychisch sehr anstrengend. Die Frauen laufen so Gefahr, irgendwann selbst zum Pflegefall zu werden. Und wenn sie jünger sind, dann kommt es oft vor, dass Frauen ihre Erwerbstätigkeit reduzieren. So wird auch das eigene Pensionskonto am Ende kleiner und kleiner." 

ÖGB-Pflegeexpertin Martina Lackner im Interview

Daher sind dadurch vor allem Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben, stark gefährdet?  

"Ja. Wenn man ein geringes Einkommen hat, dann belastet das auch die Seele. Als älterer Mensch gerät man da schnell an seine Grenzen und fühlt sich oftmals alleine gelassen. Und das obwohl man sein ganzes Leben lang für die Gesellschaft gearbeitet hat. Dem muss man vorbeugen."

Hast du ein konkretes Beispiel?

„Erst vor einiger Zeit lernte ich eine Frau kennen, die ihre beiden Eltern für neun Jahre pflegte. Dann kamen die Schicksalsschläge: Zuerst erkrankte der Vater an Krebs - die Pflege wurde vorwiegend von ihrer Mutter übernommen. Ein Jahr nach der Diagnose starb der Vater, die Mutter blieb allein und brauchte selbst immer mehr Betreuung, die von der Frau übernommen wurde. Dann erlitt auch die Mutter einen Schlaganfall und wurde selbst zum Pflegefall. Das war sehr schwer für die Frau, wie sie mir berichtete. Sie reduzierte zunächst eine Zeit lang ihre Arbeit und gab sie schließlich ganz auf. Heute ist sie 58 Jahre alt, sie wirkt müde und ist körperlich angeschlagen. Bald wird sie, wie sie selber sagt, auch zum Pflegefall. Obwohl sie so viel für andere gelaufen ist, ist nun niemand da, der sie auffängt und auch die finanziellen Einbußen wird sie bis an ihr Lebensende spüren."

Was der ÖGB für die Pflege daheim fordert: Es braucht einen flächendeckenden Ausbau der mobilen Dienste, Pflegeheime, Tageszentren, alternative Wohnformen, Hospize und Palliativeinrichtungen.