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Die Europäische Union scheint aus der Eurokrise nichts gelernt zu haben. Fotos: Hintergrund © artjazz – stock.adobe.com, H. Schuberth © Elisabeth Mandl

Komplex und undurchsichtig

Reform der EU-Fiskalregeln

Mit den neuen Regeln droht eine Rückkehr der Austerität statt dringend notwendiger Investitionen in Dekarbonisierung und Pflege.

Dieser Text erschien zuerst als englischer Kommentar für das Institute of New Economic Thinking (INET) und wurde für die deutsche Fassung leicht überarbeitet.

Die Aufregung war groß, als der Fiskalrat Mitte April die neuen Budgetprognosen präsentierte. Mit einem Defizit von über drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für die nächsten Jahre sowie steigende Staatsschulden in Prozent des BIP hinterlässt die Bundesregierung der nächsten eine schwere Hypothek. Die Art und Weise, wie mit den Staatsfinanzen während der Krisen umgegangen wurde, war grob fahrlässig: teure teilweise Abgeltung der Folgen der Teuerung über Einmalzahlungen statt direkter Preiseingriffe, die weniger gekostet und zusätzlich die Inflation gedämpft hätten, exorbitante Übergewinne bei Banken und Energieunternehmen zulasten der Konsumentinnen und Konsumenten, die zum großen Teil unangetastet blieben, sowie überbordende Coronaförderungen für Unternehmen..

Österreich verletzt damit die Maastricht-Grenzen (drei Prozent Budgetdefizitquote sowie 60 Prozent Staatsschuldenquote) und wird in den kommenden vier Jahren insgesamt in etwa zehn Milliarden Euro einsparen müssen. In den neuen Fiskalregeln wird exakt festgelegt, um wieviel die EU-Länder konsolidieren müssen. Es wird eine neue Ära der Austerität – also Einsparungsmaßnahmen, die vermutlich vor allem den Sozialbereich betreffen werden – eingeleitet, die das ohnehin fragile soziale Gefüge weiter destabilisieren und den Standort schädigen wird. Erwähnt sei, dass es gerade Österreich war, das in den EU-Gremien für eine besonders strenge Variante der EU-Fiskalregeln eingetreten ist, die es selbst nun nicht einhalten wird.

Die älteren Fiskalregeln trieben die Eurozone in den Jahren 2011 bis 2013 in eine anhaltende Rezession. Nachdem diese Regeln im letzten Jahrzehnt teilweise gelockert wurden und Ausnahmeregelungen aufgrund der Pandemie und Energiekrise geschaffen wurden, sind die neuen Fiskalregeln nun wieder restriktiver. Ihr Einfluss auf die sozialökologische Transformation und den europäischen Sozialstaat wird katastrophal sein.

Widerspruch zwischen technokratischer Rhetorik und ökonomischen Fakten ist enorm

Vincent Van Peteghem – der Finanzminister von Belgien, das in der ersten Hälfte des Jahres 2024 die EU-Ratspräsidentschaft innehat – behauptete bei der Ankündigung der Einigung über die Reform der Fiskalregeln im Rahmen der Trilog-Verhandlungen (zwischen Kommission, Rat und Parlament), dass das neue Rahmenwerk „ausgewogene und nachhaltige öffentliche Finanzen schützen, den Fokus auf Strukturreformen stärken und Investitionen, Wachstum und Arbeitsplatzschaffung in der gesamten EU fördern wird.“

Das ist allerdings nicht korrekt. Der Widerspruch zwischen dieser technokratischen Rhetorik und den ökonomischen Fakten ist enorm. Die neuen Regeln werden das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen behindern, nicht fördern. Und sie werden der Eurozone eine weitere schmerzhafte Austeritätsphase bescheren. Die Auswirkungen der letzten Sparprogramme bereiteten dem Aufstieg der extremen Rechten in Europa den Boden.

Es werden zwar Anreize für eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen gesetzt, aber gleichzeitig wird der Druck auf die Mitgliedstaaten erhöht, einzusparen. Zuallererst vermutlich bei Haushaltskategorien wie dem Sozialbudget, das keine Investitionen beinhaltet.

Sparprogramme führen aber zu einer niedrigeren Wirtschaftsleistung, was dem Ziel, die Schuldenquote zu reduzieren, entgegenwirkt. Denn die Schuldenquote ergibt sich aus den Staatsschulden in Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Je langsamer das Bruttoinlandsprodukt wächst, desto langsamer reduziert sich die Schuldenquote. Obwohl bedeutende langfristige Investitionen in die sozialökologische Transformation und in die Stärkung Europas als Wirtschaftsstandort im Allgemeinen dringend erforderlich sind, werden die notwendigen Investitionen durch die Einigung über die Fiskalregeln unzureichend geschützt und gefördert. Tatsächlich wird das neue Rahmenwerk der Fiskalregeln die Möglichkeiten einer Erhöhung der öffentlichen Investitionen deutlich einschränken, insbesondere in hoch verschuldeten EU-Ländern.

Schätzungen der zusätzlichen öffentlichen Investitionen, die erforderlich sind, um die Klimaziele zu erreichen und die EU-Wirtschaft bis 2050 zu dekarbonisieren, variieren stark. Die jüngste Studie vom Institut Rousseau aus dem Jahr 2024 schätzt den zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf auf jährlich rund 1,6 Prozent des aktuellen Bruttoinlandsprodukts der EU, was als untere Grenze betrachtet werden kann. Die EU-Militärausgabenquote lag in den Jahren 2013 bis 2022 zwischen 1,2 und 1,3 Prozent, wird aber in den kommenden Jahren voraussichtlich stark steigen. Die neuen Regeln sind besonders besorgniserregend angesichts des Widerstands gegen die Einrichtung eines dauerhaften EU-Investitionsfonds – zum Beispiel einer Aufbau- und Resilienzfazilität 2.0. Hier zeigt sich ein klares Trilemma: Man kann nicht die öffentlichen (Kapital-)Investitionen erhöhen und die Schuldenquote reduzieren, wenn man sich gleichzeitig weigert, Steuereinnahmen aus Vermögen einzuführen oder zu erhöhen. Wenn die neuen Fiskalregeln umgesetzt werden, wird dieses Trilemma höchstwahrscheinlich durch erhebliche Kürzungen bei den Sozialleistungen gelöst werden.

Die Methode, die zur Bewertung der verbindlichen Schuldenreduktionspfade für Mitgliedsländer im Rahmen der Einigung festgelegt wurde, birgt das Risiko der Prozyklizität. Das bedeutet, dass beispielsweise gerade in Ländern, denen es wirtschaftlich schlecht geht, stärker gespart werden muss – dadurch verschlimmert sich aber deren wirtschaftliche Situation noch weiter. Besonders besorgniserregend ist der Einsatz einer sogenannten Schuldentragfähigkeitsanalyse (auf Englisch: „Debt Sustainability Analysis“, kurz DSA), um den Schuldenreduktionspfad für jedes EU-Mitgliedsland zu berechnen. Eine DSA kann nützlich sein, um Risiken für den Staatshaushalt unter verschiedenen Szenarien in Bezug auf Änderungen bei Wachstum, Zinssätzen oder Alterungskosten zu analysieren. Aber diese Methodik zu verwenden, um einen mehrjährigen, verbindlichen Nettoausgabenpfad einzuzementieren, ist höchst problematisch. Die DSA ist stark subjektiv, hängt von vielen Annahmen ab und ist daher ungeeignet für die Festlegung verbindlicher Fiskalregeln.

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Wie funktionieren die neuen Fiskalregeln?

Jedes Mitgliedsland ist verpflichtet, „Fiskalstrukturpläne“ für die nächsten vier oder fünf Jahre bei der Europäischen Kommission einzureichen. Diese Fiskalstrukturpläne legen Strategien zur nachhaltigen Verringerung der öffentlichen Verschuldung fest sowie Strategien für inklusives Wachstum, Strukturreformen und Investitionen. Dabei gibt die Europäische Kommission einen Pfad für das nominelle Wachstum der Nettoausgaben vor, der eingehalten werden muss. Es wird auch Bezug genommen auf die Säulen der sozialen Rechte, die Energiesicherheit und mögliche Verteidigungsausgaben als Teil der Fiskalstrukturpläne. All diese Elemente müssen natürlich mit dem Nettoausgabenpfad kompatibel sein.

Der Europäischen Kommission kommt dabei eine wesentliche Rolle zu, da sie diese Pläne prüft, wenn sie eingereicht werden. Anschließend überwacht sie den jährlichen Fortschritt. Formell entscheidet der Europäische Rat weiterhin auf der Grundlage der Analyse der Kommission über die Genehmigung der Pläne oder die Verhängung von Sanktionen im Falle von Abweichungen. Die Mitgliedstaaten können auch eine Verlängerung der Fiskalstrukturpläne von vier auf bis zu sieben Jahre beantragen, was ihnen ermöglicht, weniger pro Jahr einsparen zu müssen und die fiskalischen Ziele später zu erreichen. Die Verlängerung erfordert jedoch eine Erhöhung der national finanzierten öffentlichen Investitionen. Die fiskalische Ausrichtung hängt daher davon ab, wie die Europäische Kommission – und anschließend der Europäische Rat – die vorgesehenen Strukturreformen und Investitionen bewertet. In jedem Fall ist der Ermessensspielraum der Europäischen Kommission in Bezug auf nationale Haushaltspolitikstrategien erheblich.

Im Zentrum der Fiskalstrukturpläne steht der zuvor erwähnte Nettoausgabenpfad für die kommenden Jahre, gemessen an der nominellen Wachstumsrate der Nettogesamtausgaben. Der primäre Nettoausgabenpfad für den Anpassungszeitraum wird von der Europäischen Kommission den Ländern bereitgestellt und – nach technischer Konsultation mit den Mitgliedstaaten – in die Fiskalstrukturpläne aufgenommen. Der Europäische Rat entscheidet dann auf der Grundlage einer Empfehlung der Europäischen Kommission über einen mehrjährigen Nettoausgabenpfad für das jeweilige Land.

Die Definition der Nettogesamtausgaben ist für die Bewertung der neuen Fiskalregeln entscheidend. Sie ist so ausgestaltet, dass sie keine Prozyklizität – also verstärktes Sparen im Konjunkturabschwung und höhere Ausgaben im Konjunkturaufschwung – aufweist, da sie nicht von der Wirkung automatischer Stabilisatoren (zum Beispiel dem Arbeitslosengeld) und anderer Ausgabenfluktuationen außerhalb der Kontrolle der Regierung betroffen sein sollte. Darüber hinaus ermöglicht sie die Finanzierung zusätzlicher Ausgaben mit zusätzlichen diskretionären Einnahmen (zum Beispiel Vermögenssteuern). Öffentliche Investitionen werden jedoch nicht von den Nettogesamtausgaben abgezogen, wie es die sogenannte „Goldene Regel“ der öffentlichen Finanzen verlangt hätte. Die Idee hinter der Goldenen Regel ist, dass wirksame öffentliche Investitionen sowohl zukünftigen Generationen zugutekommen als auch über ihre wachstumsfördernden Effekte die Schuldentragfähigkeit erhöhen können. Daher ist es wirtschaftlich gerechtfertigt, diese Ausgaben von der Berechnung der Ausgaben auszunehmen. Positiv anzumerken ist, dass der nationale Kofinanzierungsanteil im Rahmen von EU-Programmen beispielsweise von der Definition der Nettogesamtausgaben ausgeschlossen ist. Daher wird die nationale Kofinanzierung durch die Ausgabenregel nicht eingeschränkt. Allerdings spielte die nationale Kofinanzierung bislang nur eine untergeordnete Rolle.

Der Nettoausgabenpfad für jedes Land wird so abgeleitet, dass minimale Anpassungen erforderlich sind, damit sogenannte „Safeguards“ – also Schutzklauseln – gelten, die nachhaltige Haushaltspositionen am Ende des Anpassungszeitraums sicherstellen sollen. Letzteres wird als (strukturelle) Haushaltsdefizitquote von höchstens 1,5 Prozent und als eine Schuldquote definiert, die sich auf einem „glaubhaft sinkenden“ Pfad befindet oder auf einem „vernünftigen“ Niveau bleibt. Daher ist der Nettogesamtausgabenindikator im Endeffekt das relevante Ziel, aber er ist abhängig von den Schutzklauseln, die wie folgt definiert sind:

  • Schuldentragfähigkeitsanalyse („Debt sustainability analysis“): Die Europäische Kommission führt für jedes Mitgliedsland eine Schuldentragfähigkeitsanalyse durch, um einen Referenz-Haushaltsanpassungspfad abzuleiten, der mit einem sinkenden oder stabilisierenden öffentlichen Schuldenniveau am Ende des Anpassungszeitraums übereinstimmt. Darüber hinaus muss die Schuldenquote am Ende des Anpassungszeitraums die Schuldenquote fünf Jahre nach dem Anpassungszeitraum mit einer ausreichend hohen Wahrscheinlichkeit übertreffen – bewertet durch eine stochastische Analyse der Kommission. Die Schuldentragfähigkeitsanalyse wird verwendet – so wird zumindest argumentiert – um die länderspezifische Beschaffenheit der Haushaltsanpassungserfordernisse zu bewahren.
  • Schuldentragfähigkeits-Schutzklausel („Debt sustainability safeguard“): Mitgliedstaaten mit einer Schuldenquote von über 90 Prozent des BIP müssen diese im Durchschnitt um mindestens einen Prozentpunkt pro Jahr reduzieren. Mitgliedstaaten mit einem Verschuldungsniveau zwischen 60 Prozent und 90 Prozent des BIP müssen die Schuldenquote um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr reduzieren.
  • Defizit-Resilienz-Schutzklausel („Deficit resilience safeguard“): Für Länder mit einer Schuldenquote von über 60 Prozent des BIP oder einem Haushaltsdefizit von mehr als drei Prozent des BIP sollte das strukturelle Defizit nicht höher als 1,5 Prozent des BIP sein. Wenn es höher ist, sollte die jährliche Verbesserung des strukturellen Primärsaldos 0,4 Prozent des BIP betragen, wenn die Anpassung vier Jahre dauert. Bei einer verlängerten Anpassungsperiode von sieben Jahren beträgt die jährliche Mindestanpassung des strukturellen Primärsaldos 0,25 Prozentpunkte.

Jede Schutzklausel legt einen Anpassungsbedarf für den strukturellen Primärsaldo fest – die jeweils strengste Schutzklausel ist aber die verbindliche Einschränkung, die letztendlich in den mehrjährigen Nettoprimärausgabenpfad (Referenzpfad) umgewandelt wird. Die Anpassung muss linear erfolgen, um eine Verzögerung der Haushaltskonsolidierung zu vermeiden – das heißt Länder können nicht zu Beginn weniger einsparen und dafür am Ende der Anpassungsperiode mehr. Diese Anforderung könnte als eine weitere wichtige Schutzklausel betrachtet werden, die jedoch unter bestimmten Umständen gelockert werden kann.

Im Allgemeinen gelten Ausweichklauseln für einzelne Mitgliedstaaten sowie für alle Mitgliedstaaten, wenn bestimmte Umstände außerhalb der Kontrolle der betreffenden Mitgliedstaaten erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen haben, vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die mittelfristige Haushaltsstabilität.

Eine Gesamtbewertung

Im Durchschnitt sind die Konsolidierungserfordernisse im vorgeschlagenen Rahmen weniger streng als unter den alten Fiskalregeln. Dies gilt aber nur im Durchschnitt: Für einige Länder wie zum Beispiel Italien und Frankreich wird der Sparkurs drastischer sein, als dies während der Austeritätsphase 2011 bis 2014 war. Mit den neuen Fiskalregeln werden die erforderlichen Einsparungen in der Mehrzahl der Länder erheblich sein. Basierend auf Schätzungen des Think Tanks Bruegel zeigt die folgende Tabelle die jährlich erforderlichen Mindesteinsparungen für die 27 EU-Länder im Rahmen der neuen EU-Fiskalregeln, gemessen an der jährlichen Veränderung des strukturellen Primärsaldos in Prozent des BIP.

Die Grafik zeigt die erforderlichen Einsparungen 2025 in Prozent des BIP auf Grund der Reform der EU-Fiskalregeln.
ÖGB

Verschärft wird das Problem dadurch, dass viele Länder gleichzeitig Einsparungen beim öffentlichen Haushalt vornehmen müssen. Das erhöht potenziell die fiskalischen Multiplikatoren und birgt das Risiko einer kontraproduktiven, das heißt kontraktiven fiskalischen Konsolidierung. Bemerkenswert ist, dass die sechs größten EU-Länder ohne Deutschland (Italien, Frankreich, Spanien, die Niederlande, Polen und Belgien), die zusammen rund die Hälfte des EU-BIP ausmachen – mit Ausnahme einiger kleinerer Länder – die höchsten Konsolidierungserfordernisse (gemessen an der durchschnittlichen jährlichen Veränderung der strukturellen Primärsalden in Prozent des BIP) haben. Italien muss beispielsweise jährlich um rund ein Prozent des BIP konsolidieren, Frankreich und Spanien um rund 0,8 Prozent des BIP, wenn der kürzere Anpassungszeitraum gewählt wird. Damit werden höchstwahrscheinlich – über grenzüberschreitende Übertragungseffekte – die negativen Wachstumseffekte der fiskalischen Konsolidierung verschärfen werden.

Die angestrebte „Antizyklizität“ der Nettoausgabenregel läuft Gefahr, prozyklisch zu werden: Der einzige operative verbindliche Indikator – die Nettoprimärausgaben – ist so definiert, dass er Prozyklizität vermeidet. Die Berechnung des Nettoausgabenpfads wird jedoch durch die strengste anwendbare Schutzklausel eingeschränkt – dies ist in vielen Fällen die Schuldentragfähigkeitsanalyse. In einer nicht als außergewöhnlich betrachteten wirtschaftlichen Abschwächung sind Länder verpflichtet, sich an den Konsolidierungspfad zu halten. Dies kann die Wirkung automatischer Stabilisatoren untergraben und die Einführung diskretionärer antizyklischer fiskalpolitischer Reaktionen auf den wirtschaftlichen Abschwung behindern.

Die Fiskalregeln sind übermäßig komplex und behindern die demokratische Legitimität – die umstrittene und undurchsichtige „strukturelle Haushaltsbilanz“ bleibt eine wichtige Variable: Das grundlegende Ziel der Reduzierung der Komplexität der neuen Fiskalregeln wurde eindeutig verfehlt. Obwohl das Wachstum der Nettoprimärausgaben auf den ersten Blick das einzige verbindliche operative Haushaltsziel ist, bleiben strukturelle Haushaltsquoten tatsächlich als bindende Berechnungs-, Ziel- und Kontrollvariablen bestehen. Die Ableitung der Konsolidierungserfordernisse wird dadurch noch mehr zu einer „Blackbox“, was die Rechenschaftspflicht und demokratische Legitimität beeinträchtigt. Darüber hinaus basiert die Berechnung des Nettoausgabenpfads auf mittelfristigen Prognosen (vier oder fünf Jahre für die Fiskalstrukturpläne plus zehn Jahre für die Schuldentragfähigkeitsanalyse – davon fünf Jahre für die stochastischen Wahrscheinlichkeitsprojektionen). Dies bedeutet letztlich, dass der Nettoausgabenpfad stark von Prognosefehlern beeinflusst ist. Dies gilt insbesondere für Variablen, die anfällig für erhebliche Revisionen sind, wie die nicht beobachtbare Produktionslücke oder der Zinssatz, die zur Schätzung der primären strukturellen Salden verwendet werden.

Die Schuldentragfähigkeitsanalyse, die zu einem wichtigen Element des Konsolidierungspfades einzelner Mitgliedstaaten wird, weist problematische und – in gewissem Maße – selbst erfüllende Merkmale auf. Die neuen Fiskalregeln werden oft als „risikobasiert“ bezeichnet, weil die Europäische Kommission eine Schuldentragfähigkeitsanalyse als Grundlage für eine der Schutzklauseln verwendet, um den Nettoprimärausgabenpfad zu berechnen. Die Schuldentragfähigkeitsanalyse der Europäischen Kommission besteht derzeit aus einer Reihe von Projektionsszenarien für die Staatsschulden in den nächsten zehn Jahren: erstens ein Basisszenario, in dem die Einhaltung des Konsolidierungspfads angenommen wird, und zweitens sechs deterministische Szenarien – drei deterministische Stresstests (zum Beispiel ungünstige Differenz von Zinssatz und Wachstum) und drei alternative fiskalpolitische Szenarien – plus stochastische Wahrscheinlichkeitsprojektionen.

Das klingt nicht nur unglaublich kompliziert, sondern ist es auch. Die Methodik selbst weist einige Merkmale auf, die bestenfalls als Farce bezeichnet werden können. Zum Beispiel geht eines der alternativen fiskalpolitischen Szenarien („niedrigere strukturelle Primärsalden“) davon aus, dass die fiskalischen Konsolidierungsbemühungen nach einer kurzen Zeit nach Ende des Anpassungszeitraums dauerhaft ins Stocken geraten – was in einigen Fällen langfristig zu nicht nachhaltigen Schuldenpfaden führen würde. Um dies zu vermeiden, wird der erforderliche fiskalische Anpassungspfad dann restriktiver. Um diese Absurdität zu vereinfachen: Die neuen Regeln nehmen implizit an, dass sie später gebrochen werden, und antizipieren dies, indem sie den Konsolidierungspfad straffen. Dies scheint der Hauptgrund zu sein, warum laut Schätzungen basierend auf der aktuellen Methodik der Schuldentragfähigkeitsanalyse der Europäischen Kommission in den meisten Ländern, die eine Verschuldungsquote von über 60 Prozent aufweisen, die Schuldentragfähigkeitsanalyse-Schutzklausel die strengste unter den Schutzklauseln ist.

Per Definition ist jede Schuldentragfähigkeitsanalyse subjektiv, da sie auf Annahmen und/oder Markterwartungen basiert, insbesondere im Hinblick auf fiskalische (Kosten des Alterns), finanzielle (Kreditzinsen) und makroökonomische Variablen (potenzielles Output-Wachstum). Daher beeinflusst die gewählte Methodik das Ergebnis stark. Zudem sind bedeutende Prognosefehler bei Projektionen für einen so langen Zeitraum unvermeidlich. Wenn zum Beispiel das potenzielle Output-Wachstum in der Schuldentragfähigkeitsanalyse als zu niedrig prognostiziert wird, bedeutet dies einen höheren fiskalischen Anpassungsbedarf, der über den fiskalischen Multiplikator selbst erfüllend wird. Ein niedrigeres Wachstum könnte dann potenziell zu einem Ergebnis führen, das durch die Fiskalregeln vermieden werden sollte: höhere Schulden- (und Defizit-)Quoten.

Eine weitere Einschränkung der Schuldentragfähigkeitsanalyse ist, dass grenzüberschreitende Auswirkungen nicht berücksichtigt werden, welche jedoch erheblich sein könnten. Die Europäische Kommission geht von einem fiskalischen Multiplikator von 0,75 aus, was bedeutet, dass eine fiskalische Konsolidierung von einem Prozent des BIP das BIP-Wachstum im gleichen Jahr um 0,75 Prozent im Vergleich zum Ausgangswert reduziert. Forschungsergebnisse zeigen, dass die negativen Wachstumseffekte der fiskalischen Konsolidierung deutlich höher sein können, wenn mehrere Länder gleichzeitig konsolidieren.

Während eine Schuldentragfähigkeitsanalyse prinzipiell ein nützliches Instrument zur Analyse der fiskalischen Risiken unter verschiedenen Szenarien hinsichtlich Wachstum, Zinssätzen, Alterungskosten oder Ähnlichem sein kann, können Finanzmärkte sehr empfindlich auf ihre Details reagieren. Angesichts dieser Sensibilität ist der Einsatz einer Schuldentragfähigkeitsanalyse sehr heikel. Die Verwendung dieses Instruments zur Berechnung eines mehrjährigen, verbindlichen Nettoausgabenpfads ist ein ziemlich gewagtes Unterfangen. Warum Mitglieder des EU-Rates für dieses Regelwerk gestimmt haben, ist mehr als rätselhaft.

Die neuen Fiskalregeln geben der Europäischen Kommission einen weiten Spielraum für Eingriffe in nationale budgetpolitische Entscheidungen, während sie die Notwendigkeit einer angemessenen demokratischen Rechenschaftspflicht vernachlässigen: Dies betrifft insbesondere die Entscheidung über angeforderte Verlängerungen der mehrjährigen Fiskalstrukturpläne, die niedrigere fiskalische Anpassungen der Mitgliedstaaten ermöglichen. Ein Mitgliedstaat kann den erforderlichen Anpassungspfad von vier auf sieben Jahre verlängern, wenn er glaubwürdig versichert, dass er beabsichtigt, wachstumsfördernde Investitionen zu tätigen, unter anderem aber auch, wenn er die Empfehlungen der Europäischen Kommission für Strukturreformen im Rahmen des Europäischen Semesters umsetzt. Daher kann der Rat der Europäischen Union – auf Empfehlung der Europäischen Kommission – Mitgliedstaaten drängen, bestimmte Strukturreformen umzusetzen. Dies wäre ein drastischer Wandel gegenüber der üblichen Praxis, bei der die Europäische Kommission nur unverbindliche Empfehlungen abgeben kann. Der Schuldentragfähigkeitsanalyse im Rahmen der Fiskalregeln einen höheren Stellenwert zu geben, beschränkt zudem die demokratische Legitimität, da dieses Instrument undurchsichtig und schwer verständlich für politische Entscheidungsträger:innen ist. Leider gilt das Gleiche auch für die Fiskalregeln insgesamt.

Die EU-Verordnung zu den neuen Fiskalregeln enthält zahlreiche Verweise auf die Beteiligung der Sozialpartner und auf die europäische Säule der sozialen Rechte. Zum Beispiel müssen die Mitgliedsländer in ihren Fiskalstrukturplänen darlegen, welche Maßnahmen sie planen, um die europäische Säule der sozialen Rechte zu erfüllen. Gleichzeitig müssen sie jedoch auch erklären, wie sie die Empfehlungen der Europäischen Kommission im Rahmen des „Europäischen Semesters“ umsetzen, das oft darauf abzielt, die Wirtschaft zu deregulieren. Während Verweise auf soziale Themen einen unverbindlichen Charakter haben, bei dem die Europäische Kommission einen hohen Grad an Ermessensspielraum bei ihrer Auslegung hat, ist die Einhaltung des Nettoausgabenpfades verpflichtend – andernfalls können Sanktionen verhängt werden.

Die Möglichkeit, vorübergehende (grüne) öffentliche Investitionen zu fördern, beispielsweise durch Ausschluss von öffentlichen Investitionsausgaben aus den Schutzklauseln und/oder die Einführung einer Goldenen Regel, wurde weitgehend verpasst: Mit den neuen Fiskalregeln können öffentliche Investitionen nur erhöht werden, wenn gleichzeitig diskretionäre Einnahmen steigen, zum Beispiel durch eine Vermögenssteuer, und/oder wenn Mitgliedstaaten mehr fiskalische Konsolidierung in nicht investitionsbezogenen Bereichen durchführen (zum Beispiel bei Sozialausgaben). Die neuen Fiskalregeln sind auch angesichts des Umstands extrem problematisch, dass nicht dafür gesorgt wurde, dass die EU-Aufbau- und Resilienzfazilität, die Ende 2026 ausläuft, verlängert wird. Bemühungen, daraus einen dauerhaften Investitionsfonds der EU zu machen, sind bislang kläglich gescheitert. Angesichts des Bedarfs steigender öffentlicher Investitionen und der geforderten steigenden Verteidigungsausgaben, ist eine erhebliche Kürzung des europäischen Wohlfahrtsstaats das wahrscheinliche Ergebnis, sollten die neuen Fiskalregeln umgesetzt werden – mit weitreichenden Folgen für das soziale und politische System Europas.