ÖGB-Wohlgemuth zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen:
„Jedes nicht ausgeschöpfte Potenzial ist verlorene Chance“
"Barrieren enstehen meist im Kopf - und genau dort müssen sie auch überwunden werden. Vieles ist möglich, wenn man nur will", zeigt Tirols ÖGB-Vorsitzender Philip Wohlgemuth auf. Er fordert mehr Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, die Stärkung von Behindertenvertrauenspersonen sowei eine Erhöhung der Ausgleichstaxe um ein "Freikaufen" zu verhindern.
„Wir brauchen konkrete Verbindlichkeiten anstatt bloßer Willensbekundungen!“, so Wohlgemuth. Nach wie vor sind viele Menschen mit Behinderungen vom Arbeitsmarkt defacto ausgeschlossen. „Jeder Arbeitende ist gleich wertvoll und leistet einen großen Beitrag zum gesamten betrieblichen Erfolg. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, genauso gestaltet sich die Arbeitswelt. Diskriminierung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben! Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert!“, macht sich Wohlgemuth für gelebte Inklusion stark. Zudem gehe es in der heutigen Arbeitswelt auch um das Arbeitsklima. „Erfahrungsgemäß profitieren von Inklusion alle Beschäftigten gleichermaßen, denn Menschen mit Behinderungen bringen oft wesentliche soziale Kompetenzen und Skills mit. Jedes nicht ausgeschöpfte Potenzial ist eine verlorene Chance!“, zeigt Wohlgemuth auf. Gesetzlich festgesetzt ist die Beschäftigung von mindestens einer Person mit Behinderungen pro 25 Mitarbeiter:innen.
Billiges Freikaufen von der gesellschaftlichen Verantwortung
Dennoch gehen viele Betriebe den vermeintlich leichteren Weg und arrangieren sich mit den anfallenden Ausgleichszahlungen bei Nichtbeschäftigung dieser Personengruppe. Die Ausgleichstaxe beträgt grundsätzlich 292 Euro pro Monat für jede Person mit Behinderung, die zu beschäftigen wäre. Bei Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeiter:innen sind es 411 Euro, ab 400 Beschäftigten 435 Euro. „Dieses ‚Freikaufen‘ von der gesellschaftlichen Verantwortung ist viel zu billig, die Ausgleichstaxe muss deutlich erhöht werden. Mir geht es dabei vor allem darum, dass Menschen mit Behinderungen auch in der Arbeitswelt sichtbar sind, dass sie Chancengleichheit vorfinden. Diese Diskriminierung muss ein Ende haben!“, fordert Wohlgemuth. Die Ausgleichstaxe solle die Höhe durchschnittlicher Lohnkosten erreichen, damit es für Unternehmen unattraktiv wird, sich mittels Taxe der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu entziehen. Außerdem sollten die Voraussetzungen für die Einstellungspflicht für begünstigte Behinderte von derzeit 25 auf 20 Dienstnehmer:innen gesenkt werden. Der Tiroler ÖGB-Chef sieht zudem einen weiteren Hebel: „Ein zentraler Punkt zur gelebten Inklusion wäre die Stärkung der Behindertenvertrauensperson.“
Potential am Arbeitsmarkt
Wohlgemuth setzt sich für ein Umdenken ein: „Gerade in Zeiten, wo viele Betriebe händeringend Mitarbeiter:innen suchen, ist jedes nicht ausgeschöpfte Potential eine verlorene und vergebene Chance! Die Politik ist gefordert, die geeigneten Rahmenbedingungen für gelebte Inklusion zu schaffen. Wir benötigen verbindliche Maßnahmen und einen konkreten Zeitplan. Aktive Arbeitsmarktpolitik und gezielte Förderung, besonders auch Weiterqualifizierung, sind hier unerlässlich. Wir wollen ein gutes Leben für alle. Das bedeutet auch, gezielt dort zu unterstützen, wo Menschen Hilfe brauchen.“ Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist ein Recht, das Österreich auch mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat. Wohlgemuth betont, dass nur mit einer kompletten Umsetzung der UN-Konvention echte kooperative Partizipation möglich sei und dadurch auch mehr Empowerment von Menschen mit Behinderung. „Mir geht es um Selbstbestimmung, Eigenmacht und Unabhängigkeit der Betroffenen“, so Wohlgemuth.
Gehalt statt Taschengeld
Die aktuellen Bestimmungen sehen vor, dass Menschen mit Behinderungen, die erstmals eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt suchen, eine Arbeitsfähigkeit von mehr als 50 Prozent aufweisen müssen, um Förderungen vom Arbeitsmarktservice erhalten zu können. Die Feststellung der mangelnden Arbeitsfähigkeit hat für Menschen mit Behinderungen weitreichende negative Auswirkungen, so der Tiroler ÖGB-Chef: „Zahlreiche Betroffene absolvieren in Werkstätten eine sogenannte Beschäftigungstherapie, wofür sie lediglich zwischen fünf und 200 Euro monatlich erhalten. Außerdem haben sie keine sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche wie Krankengeld, Arbeitslosengeld oder Pensionsansprüche.“ Der ÖGB fordert daher die Abschaffung der rein medizinischen Feststellung der Arbeitsfähigkeit, sozialversicherungsrechtlich abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse auch für Menschen mit Behinderung sowie eine angemessene Entlohnung statt Taschengeld.
Das Chancen Nutzen Büro im ÖGB mit Sitz in Wien bietet seit zwei Jahrzehnten Beratungen, Workshops und Seminare zu einer Vielzahl von Themen an. Häufige Inhalte der Beratungen sind Stress, Burnout, Mobbing und Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.