Wohlgemuth fordert gelebte Inklusion
Echte Chancengleichheit leider immer noch ein Wunschdenken in vielen Arbeitsbereichen
„Barrieren entstehen meist im Kopf – und genau dort müssen sie auch überwunden werden. Vieles ist möglich, wenn man nur will“, zeigt Tirols ÖGB-Vorsitzender Philip Wohlgemuth auf. Er fordert die Stärkung von Behindertenvertrauenspersonen, eine Erhöhung der Ausgleichstaxe um ein „Freikaufen“ zu verhindern und nimmt die Politik in die Pflicht: „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist ein Recht, das die Politik endlich ernst nehmen muss.“ Derzeit sind in Tirol 3.071 Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen arbeitslos gemeldet, darunter 713 mit einer anerkannten Behinderung.
„Wir brauchen konkrete Verbindlichkeiten anstatt bloßer Willensbekundungen!“, so Wohlgemuth. Nach wie vor sind viele Menschen mit Behinderungen vom Arbeitsmarkt defacto ausgeschlossen. Gesetzlich festgesetzt ist die Beschäftigung von mindestens einer Person mit Behinderungen pro 25 Mitarbeiter:innen. Dennoch gehen viele Betriebe den vermeintlich leichteren Weg und arrangieren sich mit den anfallenden Ausgleichszahlungen bei Nichtbeschäftigung dieser Personengruppe. Dabei verpassen viele eine einzigartige Chance: die Möglichkeit, ein Inklusionsbetrieb zu werden. „Jeder Arbeitende ist gleich wertvoll und leistet einen großen Beitrag zum gesamten betrieblichen Erfolg. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, genauso gestaltet sich die Arbeitswelt. Es muss endlich ein Umdenken geschehen, Menschen mit Behinderungen nicht als Last oder Mehrarbeit wahrzunehmen, sondern als Möglichkeit, neue Perspektiven kennenzulernen“ betont Wohlgemuth. „Diskriminierung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz darf in unserer weit entwickelten Gesellschaft keinen Platz haben! Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert!“ Zudem gehe es in der heutigen Arbeitswelt auch um das Arbeitsklima. „Erfahrungsgemäß profitieren von gelebter Inklusion alle Beschäftigten gleichermaßen, denn Menschen mit Behinderungen bringen oft wesentliche soziale Kompetenzen und Skills mit. Der Zusammenhalt wird gestärkt, das ist auch ein großes Plus für das Unternehmen“, zeigt Wohlgemuth auf.
Menschen mit Behinderungen stoßen nicht selten in der Arbeitswelt auf Barrieren – Menschen mit körperlichen Behinderungen oft auf bauliche Hürden, Menschen mit geistigen Behinderungen oft auf Sperren im Kopf. Grundsätzlich sind Betriebe ab 25 Mitarbeiter:innen verpflichtet, auf jeweils 25 Beschäftigte einen begünstigten Behinderten bzw. eine begünstigte Behinderte einzustellen. Sollte dies nicht erfüllt werden, ist eine Ausgleichstaxe in Höhe von 292 Euro pro Monat zu entrichten und zwar für jede Person, die zu beschäftigen wäre. Bei Unternehmen mit mehr Mitarbeiter:innen steigt dieser Betrag: ab 100 Beschäftigten sind es 411 Euro, ab 400 Beschäftigten 435 Euro. Die eingenommenen Gelder fließen in den Ausgleichstaxfonds, der vom Sozialministerium verwaltet wird. Die Gelder sind zweckgebunden und kommen Menschen mit Behinderungen zugute.
Billiges Freikaufen
„Dieses ‚Freikaufen‘ von der gesellschaftlichen Verantwortung ist viel zu billig, die Ausgleichstaxe muss deutlich erhöht werden. Mir geht es dabei vor allem darum, dass Menschen mit Behinderungen auch in der Arbeitswelt sichtbar sind, dass sie Chancengleichheit vorfinden. Diese Diskriminierung muss ein Ende haben!“, fordert Wohlgemuth. Die Ausgleichstaxe muss die Höhe durchschnittlicher Lohnkosten erreichen, damit es für Unternehmen unattraktiv wird, sich mittels Taxe der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu entziehen. Außerdem sollten die Voraussetzungen für die Einstellungspflicht für begünstigte Behinderte von derzeit 25 auf 20 Dienstnehmer:innen gesenkt werden. Der Tiroler ÖGB-Chef sieht zudem einen weiteren Hebel: „Ein zentraler Punkt zur gelebten Inklusion wäre zudem die Stärkung der Behindertenvertrauensperson.“
Potential am Arbeitsmarkt
Wohlgemuth setzt sich für ein Umdenken ein: „Gerade in Zeiten, wo viele Betriebe händeringend Mitarbeiter:innen suchen, ist jedes nicht ausgeschöpfte Potential eine verlorene und vergebene Chance! Die Politik ist gefordert, die geeigneten Rahmenbedingungen für gelebte Inklusion zu schaffen. Wir benötigen verbindliche Maßnahmen und einen konkreten Zeitplan. Aktive Arbeitsmarktpolitik und gezielte Förderung, besonders auch Weiterqualifizierung, sind hier unerlässlich. Wir wollen ein gutes Leben für alle. Das bedeutet auch, gezielt dort zu unterstützen, wo Menschen Hilfe brauchen.“
Das Chancen Nutzen Büro im ÖGB mit Sitz in Wien bietet seit zwei Jahrzehnten Beratungen, Workshops und Seminare zu einer Vielzahl von Themen an. Häufige Inhalte der Beratungen sind Stress, Burnout, Mobbing und Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.