Sozialer Fortschritt
Zeit, die Marktfreiheiten zurechtzustutzen
Eigentlich sollte das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort” in der ganzen EU gelten – tut es aber nicht
Das Gleichheitsprinzip, wonach alle Menschen gleich zu behandeln sind, ist eine der Grundfesten der Europäischen Union und gilt seit einigen Jahren auch für die Bezahlung von Erwerbsarbeit. Die sogenannte Entsenderichtlinie regelt seit 2018 für die ArbeitnehmerInnen aller Mitgliedsstaaten: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Die Praxis sieht oft anders aus: ArbeitnehmerInnen bekommen im neoliberal dominierten Wettkampf zu spüren, dass Arbeitskosten eine große Rolle spielen. Teilweise werden diese Ungerechtigkeiten vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) toleriert, erklärt ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian im Rahmen eines Webinars über den „Europäischen Pakt für den Sozialen Fortschritt“, zu dem der ÖGB Brüssel am 16. November geladen hatte, und führt dazu das Beispiel der Causa „Henry am Zug“ an.
Der Zuschlag für das Catering an Bord der ÖBB-Züge ging an das österreichische Unternehmen, das den Auftrag wiederum an ungarische Tochterfirmen weiterdelegierte. Mit dem Ergebnis, dass MitarbeiterInnen aus Budapest, wo der Zug startete, für ihre Arbeit auf der Fahrt nach München und retour nur halb so viel bezahlt bekamen wie ihre KollegInnen aus Österreich.
Unverständliches Urteil
Laut EuGH-Urteil hat der „wesentliche Teil" der Arbeit der betroffenen ArbeitnehmerInnen nämlich nicht in Österreich stattgefunden, sondern beim Be- und Entladen der Speisen und Getränke in Ungarn. Dienstanfang und -ende sowie die Erledigung administrativer Aufgaben hätten ebenfalls in Ungarn stattgefunden, weshalb die EU-Entsenderichtlinie nicht zur Anwendung komme.
„Eine komplett unverständliche Begründung. Fälle wie diese sorgen für große Verunsicherung bei den Menschen“, so der ÖGB-Präsident. Urteile wie diese führen alle Bemühungen ad absurdum, Lohn- und Sozialdumping zu bekämpfen.
Therese Gouvelin vom schwedischen Gewerkschaftsbund Landsorganisationen i Sverige (LO) berichtet, dass sich Verstöße gegen die Entsenderichtlinie in ihrer Heimat vor allem im Baugewerbe häufen. Wie Kontrollen ergaben, hatten fünf bis 30 Prozent der Arbeiter auf Baustellen in Stockholm keine Arbeitserlaubnis.
Viele Arbeitgeber zahlen keine Sozialversicherungsbeiträge. „Wenn die EU solche Praktiken fördert, dann hat sie keine Zukunft“, so Gouvelin.
Zukunftskonferenz
Antworten, wie man die drängendsten Herausforderungen bewältigen kann, will auch die EU-Zukunftskonferenz ausarbeiten. Das Gremium, das im Juni 2021 seine Arbeit aufnahm, setzt sich zusammen aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Mitgliedern der EU-Kommission, VertreterInnen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), europäischer Bürgerforen und zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie natürlich der Sozialpartner.
Oliver Röpke, Leiter des ÖGB-Büros in Brüssel und Arbeitnehmerpräsident im EWSA, Delegierter der Zukunftskonferenz, fasst die Zielsetzung wie folgt zusammen: „Die Ergebnisse der Zukunftskonferenz müssen konkrete Verbesserungen für die ArbeitnehmerInnen bringen. Ein weiteres Papier mit leeren Ankündigungen brauchen wir nicht. Die europäischen Gewerkschaften fordern, dass auch weitergehende Vertragsänderungen nicht ausgeschlossen werden dürfen, hier ist das soziale Fortschrittsprotokoll unsere gemeinsame Kernforderung.“
ArbeitnehmerInnen dürfen nicht der Spielball jener sein, die ihre Interessen am Markt durchsetzen wollen.
Gewerkschaften stärker einbinden
„Uns ist es wichtig, dass die soziale Frage mehr Aufmerksamkeit bekommt in der EU“, fasst Katzian die Position der Gewerkschaften zusammen: „Eine Organisation mit dem zentralen Element der Marktwirtschaft wird nie von sich aus an der Verbesserung sozialer Rechte betreiben, dafür braucht es unseren Druck. ArbeitnehmerInnen dürfen nicht der Spielball jener sein, die ihre Interessen am Markt durchsetzen wollen.“
In diesem Sinne fordert der ÖGB-Präsident auch, die Sozialpartner und Gewerkschaften stärker in die Zukunftskonferenz einzubinden: „Der gemeinsame Weg ist nur möglich, wenn es gelingt, die ArbeitnehmerInnen emotional mitzunehmen.“
„Zurechtstutzen“ der Marktfreiheiten als unangreifbare Grundrechte
Einen vielversprechenden juristischen Lösungsansatz für die genannten Probleme der EU zeigt eine aktuelle Studie von Prof. Florian Rödl - verfasst im Auftrag der AK Wien - auf. Die aktuelle EU-Verfassung verhindert die Verwirklichung von „Gemeinwohlzwecke und sozialem Ausgleich“, erklärt der Jurist im Webinar.
Er sieht den Grund dafür im Wesentlichen darin, dass der Europäische Gerichtshof die Marktfreiheiten als unangreifbare Unternehmergrundrechte konzipiert hat.
Der Europäische Pakt für sozialen Fortschritt vom November 2016, getragen von den Gewerkschaftsbünden und sozialdemokratischen Parteien aus Schweden, Österreich und Deutschland, setze richtig an: Gefordert wird im Wesentlichen ein Zurechtstutzen der Marktfreiheiten von parteilichen Unternehmergrundrechten zu normalen Gleichbehandlungsgeboten, die nicht mehr prinzipiell über ArbeitnehmerInnen- oder Gewerkschaftsrechten stehen.
Diese Forderungen des Europäischen Paktes für sozialen Fortschritt lassen sich in einfache und klare Änderungen der EU-Verträge gießen. Die Zukunftskonferenz bietet einen guten Anlass, um über derartige, tiefgreifende Reformen nachzudenken.