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European Parliament, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/>, via Flickr

Resolution

Das soziale Europa ausbauen: Eine Voraussetzung für die Konvergenz und Erweiterung

Da die vergangenen EU-Erweiterungsrunden nicht zu einer Ausweitung des sozialen Europas geführt haben, sind die Lohnunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten auch nach zwanzig Jahren noch immer erschreckend. Die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne ist ein wichtiger erster Schritt, um eine Angleichung der sozialen Standards und der Löhne in der EU zu erreichen. Bei den laufenden Erweiterungsverhandlungen müssen ein wirksamer sozialer Dialog und stärkere Arbeitnehmerrechte im Vordergrund stehen, um eine faire Lösung für die Arbeitnehmer zu gewährleisten und zu verhindern, dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden.

Hintergrund: 20 Jahre seit der größten EU-Erweiterung

Das Jahr 2024 markiert den 20. Jahrestag der bisher größten Erweiterung der Europäischen Union: Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei und Slowenien traten 2004 bei. Bulgarien, Rumänien und Kroatien folgten in den Jahren 2007 und 2013.

In vielerlei Hinsicht war die Erweiterung eine Erfolgsgeschichte. Die neuen Mitgliedstaaten verzeichneten ein erhebliches Wirtschaftswachstum und eine Verbesserung der Lebensstandards. Obwohl die Aushöhlung der demokratischen Strukturen eine Bedrohung darstellt und in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Maße verwirklicht wurde, hat die europäische Integration insgesamt zu politischer Stabilität und einer stärkeren Verankerung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beigetragen. Sowohl private als auch öffentliche Investitionen sind geflossen und haben Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen, moderne Infrastrukturen aufgebaut und den Binnenmarkt gestärkt.

Die Erfolge und Vorteile der EU-Erweiterung sind unbestreitbar. Allerdings haben sich noch nicht alle Hoffnungen, die mit der EU-Mitgliedschaft verbunden sind, vollständig erfüllt. Die vier Freiheiten des Binnenmarktes wurden schnell auf die neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt, aber die Ausweitung des sozialen Europas[1] folgte in nicht einmal annähernd  gleichem Maße.

Das lange Warten auf das Soziale Europa

Für die meisten mitteleuropäischen Länder war das Jahrzehnt vor dem EU-Beitritt durch eine schockartige Einführung des Marktparadigmas gekennzeichnet: Im Einklang mit dem neoliberalen Zeitgeist wurden soziale Schutzmaßnahmen in großem Umfang abgebaut, während Arbeits- und Gewerkschaftsrechte erheblich eingeschränkt und letztere sogar angefeindet wurden.

Der EU-Beitritt änderte wenig an diesem Trend. Multinationale Unternehmen nutzten die niedrigen Löhne sowie die qualifizierten und hochproduktiven Arbeitskräfte, um ihre Kosten zu senken und ihre Gewinne zu steigern. Da sie nur die Schaffung von Arbeitsplätzen im Sinn hatten, waren viele nationale Regierungen in Mittel- und Osteuropa bestrebt, den sozialen Dialog, die Arbeitsrechte und -normen, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer:innen sowie die Kollektivvertragsverhandlungen niedrig und den Druck auf die Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innenvertretungen hoch zu halten. Der sich daraus ergebende Rechtsrahmen war oft abschreckend für die Gewerkschaftsarbeit und Kollektivvertragsverhandlungen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Ablehnung des sozialen Dialogs sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor stattfand. Auch in letzterem verkommt er regelmäßig zu einer rein formalen Angelegenheit ohne wirkliche Substanz.

Viele Unternehmen, die in den nach 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten Niederlassungen und Produktionsstätten eröffneten, legten und legen immer noch doppelte Maßstäbe an, wenn es um die Rechte der Arbeitnehmer:innen geht: Während sie sich in ihrem Herkunftsland zu einem konstruktiven sozialen Dialog, zu Kollektivvertragsverhandlungen und zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer:innen bekennen, missachten sie diese grundlegenden Merkmale des Europäischen Sozialmodells in ihren mitteleuropäischen Gastländern völlig - bis hin zur aktiven Gewerkschaftsfeindlichkeit. Solche Praktiken unterstreichen die Notwendigkeit einer verstärkten grenzüberschreitenden gewerkschaftlichen Zusammenarbeit.

Die Tatsache, dass ausländische multinationale Unternehmen zu einigen der größten Arbeitgeber in Mitteleuropa geworden sind, hat den sozialen Dialog weiter geschwächt, da die Entscheidungsprozesse des Managements der Arbeitgeber:innen von den Arbeitnehmer:innen, ihren Vertretungen und der gelebten Realität auf lokaler Ebene entfernt sind. Darüber hinaus begünstigte die Vorherrschaft der multinationalen Unternehmen keine starken nationalen Arbeitgeberorganisationen, die bei der Aushandlung von Branchenkollektivverträgen als Gegenüber der Gewerkschaften fungieren könnten.

Ein besorgniserregender Rückgang der Kollektivvertragsabdeckung

Infolgedessen ist die Kollektivvertragsabdeckung in Mitteleuropa stetig gesunken, wie Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)[2] und des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (EGI)[3] belegen. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) schätzt, dass die Kollektivvertragsabdeckung seit dem Jahr 2000 in Kroatien um 19 %, in Tschechien um 5 %, in Ungarn um 17 %, in Slowenien um 29 % und in der Slowakei um 26 % zurückgegangen ist[4]. Es ist daher nicht überraschend, dass die EU von einer realen Lohnkonvergenz noch weit entfernt ist. Zwar sind die Reallöhne in den EU-Mitgliedstaaten, die 2004 und danach beigetreten sind, gestiegen, doch liegen sie immer noch drei- bis viermal unterhalb jener in anderen EU-Mitgliedstaaten, wie etwa Deutschland oder Österreich.

Die anhaltende Niedriglohn- und Arbeitsflexibilisierungspolitik in Mittel- und Osteuropa schafft Push-Faktoren für die Auswanderung. Die Kurzsichtigkeit dieser Politik zeigt sich darin, dass bereits Millionen von Menschen aus Mitteleuropa gen Westen ausgewandert sind, was das soziale Gefüge belastet und zu einem Mangel an Arbeitskräften führt, der die weitere wirtschaftliche Entwicklung behindert. Auf der anderen Seite führte die Freizügigkeit der Arbeitskräfte zu einer akuten Gefährdung durch Lohn- und Sozialdumpingpraktiken in EU-Mitgliedstaaten mit höheren Löhnen und Sozialversicherungsstandards.

Der Weg zur Lohn- und Sozialkonvergenz

Wenn die EU eine faire Lösung für die Arbeitnehmer:innen bieten soll, muss dieser Trend umgekehrt werden. 20 Jahre nach der bisher größten EU-Erweiterung muss eine Erweiterung des sozialen Europas folgen, denn die Unterschiede bei den Lohn- und Sozialstandards sind nach wie vor erschreckend. Die Richtlinie (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne ist ein wichtiger erster Schritt, um die Sozial- und Lohnkonvergenz in der EU nach oben zu erreichen. Mitgliedsstaaten mit einer Kollektivvertragsabdeckung von unter 80 % müssen nicht nur einen angemessenen Mindestlohn einführen, sondern auch nationale Aktionspläne zur Förderung von Kollektivvertragsverhandlungen aufstellen.

Die mitteleuropäischen Gewerkschaften fordern einen nationalen Rechtsrahmen, der den sozialen Dialog unterstützt. Für eine konstruktive Sozialpartnerschaft müssen sowohl die Arbeitgeberorganisationen als auch die Gewerkschaftsstrukturen gestärkt werden. Kollektivvertragsverhandlungen auf sektoraler und sektorübergreifender Ebene müssen zur Norm werden, da sich die Beschränkung auf Verhandlungen auf Unternehmensebene allzu oft als Instrument erwiesen hat, um die Wirksamkeit der Gewerkschaften zu beeinträchtigen und sowohl die Löhne als auch die Sozialstandards niedrig zu halten. Subventionen und Steuererleichterungen für multinationale Unternehmen müssen an soziale Bedingungen und die Verpflichtung zu einem konstruktiven und ergebnisorientierten sozialen Dialog geknüpft werden. Das öffentliche Beschaffungswesen sollte genutzt werden, um sicherzustellen, dass öffentliche Gelder an Unternehmen gehen, die das Europäische Sozialmodell einhalten, Kollektivverträge abschließen und die Rechte der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer:innenmitbestimmung respektieren. Soziale Konditionalitäten sollten bei der Verteilung von EU-Mitteln zum Standard werden, unabhängig davon, ob es sich bei dem Empfänger um ein Unternehmen oder eine nationale Regierung handelt.

Lehren für künftige Erweiterungen

In letzter Zeit hat die EU-Erweiterung wieder an Dynamik gewonnen und derzeit stehen neun Länder auf der Kandidatenliste: Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Moldawien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, die Türkei und die Ukraine. Um zu gewährleisten, dass künftige Erweiterungen sowohl für die Arbeitnehmer in den EU-Mitgliedstaaten als auch in den derzeitigen Kandidatenländern ein fair sind, empfehlen wir:

  • Kein Zugang zum Binnenmarkt ohne effektiven sozialen Dialog. Der Zugang zum Binnenmarkt für Länder ohne angemessenen sozialen Dialog und soziale Standards muss abgelehnt werden. Dies würde die Lohnunterschiede verfestigen, die Konvergenz behindern und die Dynamik wiederholen, die in den EU-Mitgliedstaaten zu beobachten ist, die der EU 2004 oder später beigetreten sind.
  • Das soziale Europa zu einem Eckpfeiler der Beitrittsverhandlungen machen. Die EU darf die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und muss einen wirksamen sozialen Dialog, die Rechte der Gewerkschaften und einen breiten Geltungsbereich für Kollektivvertragsverhandlungen nicht nur zu einem Eckpfeiler der Beitrittsverhandlungen, sondern auch zu einer Vorbedingung für die EU-Mitgliedschaft machen.
  • Unterscheiden zwischen sozialem und zivilem Dialog. Zivilgesellschaftliche Organisationen (CSO) haben eine wichtige Rolle in demokratischen Gesellschaften, sind aber kein Ersatz für Gewerkschaften. Gelegentlich wurden CSO instrumentalisiert, um den sozialen Dialog zu simulieren. Im Gegensatz zum zivilen Dialog ist der soziale Dialog das Forum, in dem arbeitsbezogene Fragen, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Arbeitsbeziehungen verhandelt werden. Er fällt in den Zuständigkeitsbereich von Arbeitgeberorganisationen, Gewerkschaften und - sofern er dreigliedrig ist - Regierungen.
  • Nutzung der Heranführungshilfe zum Ausbau des sozialen Europas. In vielen Beitrittsländern arbeiten die Gewerkschaften unter strengen finanziellen und rechtlichen Beschränkungen, während die Strukturen der Arbeitgeberorganisationen und der soziale Dialog unterentwickelt bleiben. Für den Zeitraum 2021-2027 hat die EU € 14 Mrd. für die Heranführungshilfe veranschlagt. Ein Teil der Mittel für die Heranführungshilfe muss für den Ausbau des europäischen Sozialmodells und die Unterstützung des sozialen Dialogs sowie der Strukturen der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen in den Beitrittsländern verwendet werden.


[1] Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) setzt das Soziale Europa im Großen und Ganzen mit dem "sogenannten Europäischen Sozialmodell gleich, was bedeutet, dass wirtschaftliche Freiheiten von einer starken Sozialpolitik umrahmt werden, um einen fairen Wettbewerb, sozialen Zusammenhalt und eine kontinuierliche Verbesserung des Lebensstandards aller Bürger zu erreichen." Siehe: https://www.etuc.org/en/issue/social-europe

[2] OECD Data Explorer, Kollektivvertragsabdeckung. Verfügbar unter: https://data-explorer.oecd.org/vis?tm=collective%20bargaining&df[ds]=dsDisseminateFinalDMZ&df[id]=DSD_TUD_CBC%40DF_CBC&df[ag]=OECD.ELS.SAE&df[vs]=1.0&dq=..&vw=tb&pd=2000%2C&ly[cl]=TIME_PERIOD&ly[rs]=REF_AREA&to[TIME_PERIOD]=false&snb=2

[3] ETUI, Kollektivverträge. Verfügbar unter: https://worker-participation.eu/collective-bargaining

[4] EGB, EU-Länder mit schwachen Kollektivvertragsverhandlungen haben die niedrigsten Löhne (10. September 2020). Abrufbar unter: https://www.etuc.org/en/pressrelease/eu-countries-weak-collective-bargaining-have-lowest-wages

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