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Victor Adler mit ZiegelarbeiterInnen bei einem Fest zu seinen Ehren am Laaer Berg in Wien (1903)
Victor Adler mit ZiegelarbeiterInnen bei einem Fest zu seinen Ehren am Laaer Berg in Wien (1903) VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Gewerkschaftsgeschichte

Victor Adler und die ZiegelarbeiterInnen

Durch zwei Zeitungsartikel verbesserte sich das Leben tausender ZiegelarbeiterInnen und führte schließlich zu Gewerkschaftsgründungen.

Victor Adler war vieles: Arzt, Mitglied der Arbeiterbewegung, Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Häftling, Reichsratsabgeordneter, Zeitungsgründer und auch einer der ersten investigativen Journalisten. Mit seinen Artikeln löste er manche Veränderung aus, brachte Ungerechtigkeiten ans Licht und musste dafür mehrmals ins Gefängnis. Im April 1889 verbot der Staat Adlers Wochenzeitung „Die Gleichheit“, als Antwort gründete er ein neues Periodikum: „Die Arbeiter-Zeitung“, die am 12. Juli 1889 erstmals erschien. 

… diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint.

Victor Adler

Als Armenarzt hörte er täglich vom Elend der Menschen. In der von ihm gegründeten Zeitung schrieb er über schlechte Arbeitsbedingungen, Lehrbubenschinderei, Hungerlöhne und desaströse Wohnungen, aber auch davon, wie ArbeiterInnen sich dagegen wehrten. Der Staat las dies nicht gerne. In den drei Jahren, in denen die Wochenzeitung erschien, ließ er sie 45-mal beschlagnahmen. 

Ziegelarbeiterin (1910)
Ziegelarbeiterin (1910) VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Die „Ziegelböhm”

Da hatte Adler aber bereits eine seiner berühmtesten Reportagen unter dem harmlosen Titel „Die Lage der Ziegelarbeiter“ veröffentlicht. Ein Ziegelarbeiter schleuste ihn auf das hermetisch abgeschlossene Werksgelände der Ziegelfabrik- und Baugesellschaft am Wienerberg ein. Dann schrieb Adler über die Arbeits- und Lebensrealität, der meist aus Böhmen oder Mähren stammenden „Ziegelböhm“ und über die Maltaweiber (Mörtelmischerinnen), die ZiegelschlägerInnen, die Lehmscheiber oder die SandlerInnen – meist Kinder, die Sand in die Ziegelformen streuten. Sie alle waren die „Barabern für die Ringstraße“ (Anm. Fronarbeiter), die allein im Jahr 1873 26 Milliarden Stück Ziegel produzierten, mit denen an der Wiener Ringstraße Prachtbauten errichtet wurden. 

VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung
ZiegelschlägerInnen mit Lehmscheibtruhe (1910) VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Blechmünzen statt Bargeld als Lohn

Statt Bargeld erhielten die ArbeiterInnen Blechmünzen als Lohn, obwohl diese Lohnzahlung (Trucksystem) gesetzlich verboten war. Das „Blech“ galt nur am Werksgelände für die Bezahlung überhöhter Warenpreise beim Laden, Fleischer oder im Gasthaus. Vielen blieb nichts anderes übrig, als nach langen Arbeitsstunden bis zur Inzersdorfer Konservenfabrik zu gehen, um eine „unappetitliche Brühe namens Gulaschsaft“ zu erbetteln. Andere marschierten über eine Stunde bis nach Neudorf. Hier teilte ein Scharfrichter täglich 80 Portionen Suppe, Gemüse und Fleischbrocken aus.

Die ArbeiterInnen sahen nur selten „gutes Geld“ und wurden sie dabei ertappt, wie sie dieses außerhalb des Betriebsbereichs ausgaben, wurden sie entlassen. 

ZiegelarbeiterInnen schlafen in Baracken am Gelände der Ziegelfabrik am Wienerberg (1900)
ZiegelarbeiterInnen schlafen in Baracken am Gelände der Ziegelfabrik am Wienerberg (1900) VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Die ArbeiterInnen lebten in Hütten, Baracken und aufgelassenen Ringöfen, in schmutzigen Zimmern, in denen bis zu zehn Frauen, Männer, Kinder „durcheinander, untereinander, übereinander“ schliefen. Oder „wohnten“ in Schlafsälen mit bis zu 70 Menschen. Sie schliefen eng aneinander gedrängt auf Holzpritschen, auf altem Stroh ohne Betttuch. Als Decke diente die schmutzige Arbeitskleidung, als Polster ein Haufen Kohle. Versuchten die ArbeiterInnen auswärts zu schlafen, wurden sie entlassen. 

Das Paradies der Reichen wird gemacht aus der Hölle der Armen.

Victor Hugo
ZiegelarbeiterInnen lesen die Zeitung "Die Gleichheit" (1900)
ZiegelarbeiterInnen lesen die Zeitung "Die Gleichheit" (1900) VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Wer Zeitungen liest, an Versammlungen (…) teilnimmt, wird sofort entlassen

Über all dies schrieb Victor Adler in „Die Gleichheit“. Der erste Artikel erschien am 1. Dezember 1888. Daraufhin wurden nicht die Arbeitsbedingungen verbessert, sondern „strenge Nachforschungen nach Arbeitern veranstaltet“, die „Die Gleichheit“ verteilt hatten oder gar besaßen. Zwei Arbeiter wurden von ihren Strohsäcken geholt, verhaftet, angeklagt und zu Geldstrafen verurteilt. Es wurde die Losung ausgegeben: „Wer Zeitungen liest, an Versammlungen (…) teilnimmt, wird sofort entlassen.“

Auch Adler wurde angeklagt und musste 30 Gulden Geldstrafe bezahlen. Die Direktoren, Verwaltungsräte und Werkleiter mussten ob der gesetzlich verbotenen Bezahlung mit Blechmünzen, dem Trucksystem , nicht vor Gericht.

Gutes Geld

Die beiden Artikel bewirkten aber auch, dass das Gewerbeinspektorat die Wiener Ziegelwerke unter die Lupe nahm. Bald darauf wurde der Lohn in „gutem Geld“ statt in Blech ausbezahlt. Allerdings war es den ArbeiterInnen weiterhin verboten das Gelände zu verlassen, dies bedeutete, dass sie weiterhin in den teuren werkseigenen Lokalitäten einkaufen mussten.  

Das Elend allein macht vielleicht zum Schnapsbruder. Aber erst die Überzeugung, dass dieses Elend nicht notwendig ist, macht revolutionär!“

Victor Adler

Der Streik der ZiegelarbeiterInnen 1895

Die ZiegelarbeiterInnen begannen sich zu organisieren, nicht nur in Wien, sondern auch in Böhmen, Mähren und Galizien. Eine der ersten sichtbaren Zeichen ihrer Stäre, war der Streik der ZiegelarbeiterInnen im April 1895. Rund 10.000 ArbeiterInnen streikten in 30 Ziegeleien. Ziegel wurden nicht verladen und nicht ausgeliefert.

Die Gewerkschaften organisierten eine Solidaritätskampagne, in Gasthäusern wurde kostenloses Essen an Streikende ausgegeben und Frauen sammelten Kleidung. Victor Adler und der Reichsratsabgeordnete Engelbert Pernersdorfer besuchten die Ziegelwerke.

Nach acht Streiktagen stand das Ergebnis: Lohnerhöhung von durchschnittlich 15 Prozent, Einhaltung des Elfstundentages, die Sonntagsruhe und ein gerechtes Prämiensystem. Der eigentliche Erfolg war aber, dass der Staat und die Firmenleitungen erstmals direkt mit Gewerkschaftern und Vertretern der ZiegelarbeiterInnen verhandelten und diese als gleichberechtigte Verhandlungsparteien anerkannten. 

Vorstand der Union der Ziegelarbeiter (1910)
Vorstand der Union der Ziegelarbeiter (1910) VGA - Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung

Union der Ziegelarbeiter

Nach dem Streik wurde eine Fachgewerkschaft der Ziegelarbeiter und der „Fachverein der Ziegelarbeiter“ gegründet, deren Arbeit wurde aber von den Werksleitungen massiv behindert. Im Jahr 1905 gelang es mit der Gründung der „Union der Ziegelarbeiter“ ein starkes Gegengewicht zu den Unternehmern zu schaffen. Im Jahr 1907 zählte sie bereits 37 Ortsgruppen von Inzersdorf über Ostrau (heute Ostrava, Tschechische Republik) bis Lemberg (heute Lwiw, Ukraine). Im Jahr 1909 schloss die Union ihren ersten Kollektivvertrag für 17.000 ZiegelarbeiterInnen ab.

Im Dienst der ArbeiterInnen

Damals war Victor Adler bereits seit vier Jahren Reichsratsabgeordneter, setzte sich für Arbeitszeitverkürzung, das allgemeine Wahlrecht und die Gründung der Ersten Republik ein. Deren Ausrufung am 12. November 1918 erlebte er nicht mehr. Er verstarb am Tag davor.

Am 15. November 1918 verabschiedeten sich ArbeiterInnen, Politiker, Studierende und GewerkschafterInnen von Victor Adler. Unter den Trauergästen waren auch viele Ziegelarbeiter. Der Vertreter der „Union der Ziegelarbeiter“ würdigte ihn als jahrelangen Kämpfer (…), der dreißig Jahre lang für die Arbeiterbewegung eingetreten sei (…). Victor Adler sei es gewesen, der die Kräfte der Arbeiter zusammenfassen konnte (…) und all sein Wissen und Können in den Dienst der Arbeiter (…) gestellt habe.

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