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Unmenschliche Bedingungen im Camp Vučjak auf der Balkanroute
Die unmenschlichen Bedingungen im Camp Vučjak beschreibt Petar Rosandić von SOS Balkanroute als „das Schlimmste, was ich in meinem Leben gesehen habe". Ben Owen-Browne/SOS Balkanroute

Migration

Niemand flüchtet ohne Grund

Seit 2019 unterstützt Petar „Pero" Rosandić alias Kid Pex mit seiner Initiative SOS Balkanroute Geflüchtete an den EU-Außengrenzen. Im Interview berichtet er von brutaler Polizeigewalt und Rassismus, aber auch davon, was jede:r Einzelne tun kann und wie eine bessere Welt aussehen könnte.

     

oegb.at: Du warst noch ein Kind, als du mit deinen Eltern von Zagreb nach Wien gekommen bist. Wie wurdest du hier aufgenommen?

Petar Rosandić: Es war Kriegszeit. Meine Eltern wussten, dass in Wien viele Serbinnen und Serben sind und haben mich deshalb in eine katholische Privatschule gesteckt. Das war natürlich ein großer Mentalitätsunterschied und ein Schock, so rausgerissen zu werden – aus der Kindheit in Zagreb, in Jugoslawien, wo es normal war, dass sich das ganze Wohngebäude draußen trifft. Es war also am Anfang schon schwierig. Aber dann bin ich hier aufgewachsen, hab hier alles erlebt, wurde hier sozialisiert und bin viel mit Serbinnen und Serben, Musliminnen und Muslimen abgehangen. Später war ich dann in einer normalen Schule und hab auch maturiert. Da hab ich viel Rassismus erlebt und viel Abwertung, die es damals noch stärker gegen Ex-Jugoslawinnen und Ex-Jugoslawen gab. Man wollte mich nicht aufs Gymnasium lassen und dann in Deutsch mündlich auch nicht maturieren. Ich habe also früh gelernt zu kämpfen.

Hat dich deine persönliche Geschichte inspiriert, SOS Balkanroute zu gründen?

Sie spielt natürlich mit, ja, war aber nicht ausschlaggebend. Ich war 2013 im Refugee Protest Camp Vienna in der Votivkirche – da bin ich zum ersten Mal so richtig sensibilisiert worden, was die Leute durchmachen in Österreich. 2015 war ich an der ungarisch-serbischen Grenze, in Röszke, und hab mit dem Privat-PKW Spenden hingebracht. 2019 hab ich dann die abartigen Zustände im Camp Vučjak in Bosnien gesehen – das war definitiv das Schlimmste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Das hat mich bewogen weiterzumachen.

Was hast du denn in diesem Camp gesehen, das dich so bedrückt hat?

Alleine schon der Geruch dieses Camps. Es war auf einer alten Mülldeponie mitten im Wald, da gab's ein eigenes Feld, wo die Leute die große Notdurft verrichtet haben. Überall dieses Elend, Menschen wie weggeworfen, neben einem Minenfeld, im Dschungel, im Nirgendwo. Es gab auch viele Verletzte. In einem Zelt, das die Aktivist:innen „Krankenhaus“ nannten, sind nach Pushbacks durch die kroatische Polizei nonstop Leute behandelt worden. Nach der Reihe haben die Leute berichtet, dass sie geschlagen worden sind – viele haben auch entsprechend ausgesehen.

Neulich habe ich die Geschichte des afghanischen FIFA-Schiedsrichters Ibrahim Rasool gelesen, der 51 Mal versucht hat, die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien zu überqueren – und es letztlich geschafft hat, trotz brutaler Polizeigewalt …

Es gibt viele Leute, die zwanzig oder dreißig Mal gepushbackt wurden. Auf borderviolence.eu werden die einzelnen Fälle gesammelt – samt Augenzeugenberichten, Uhrzeit- und Ortsangabe. Aber ja, sein Beispiel ist schon krass. 51 Mal. Er hat mehrmals starke physische Gewalt erfahren. Einmal haben ihm Polizist:innen mit der Waffe seine Zähne ausgeschlagen. Aber jetzt geht’s zum Glück bergauf. Er hat vor wenigen Wochen einen positiven Asylbescheid bekommen. Ich bin wirklich happy, dass das grad gut läuft, dass diese Geschichten dann doch irgendwann enden und in eine gute Richtung gehen – trotz aller Hürden.

Um die Geflüchteten bestmöglich zu unterstützen, habt ihr ein eigenes Netzwerk von lokalen Helfer:innen entlang der Balkanroute aufgebaut. Wie kann man sich dieses Netzwerk konkret vorstellen?

Im Zuge unserer Hilfstransporte haben wir an verschiedenen Orten immer wieder Leute kennengelernt, die Geflüchteten helfen. Eine Person, die mich auch sehr geprägt hat, ist die Mama Zemira, eine bosnische Frau, die in Eigenregie sehr viele Leute versorgt. Sie fährt mit einem LKW-Fahrer in die Camps und verteilt dort die Hilfsgüter. Oder auch Baba Asim, der früher in Bihać einen kleinen Greißlerladen gehabt hat. In einem nie fertig gebauten Pensionistenheim bei ihm in der Nähe waren 500 Geflüchtete, viele von ihnen verletzt. Sie kamen zu ihm, fragten nach Wasser, wollten ihre Handys laden und er hat einfach intuitiv geholfen. Jetzt ist er in Pension und fährt für uns durchs Grenzgebiet. Und dann gibt's die Mama Azra in Sarajevo, die täglich ihr Haus für Geflüchtete aufmacht, die aus dem Camp zu ihr kommen und sich holen, was sie brauchen - auch sie beliefern wir mit Hilfsgütern, die wir in Österreich sammeln. In Sarajevo gibt's auch noch die Sanela, die Rechtsberatung anbietet, und in Tuzla den Nihad, der sich um Vermisste und Tote kümmert. Mit ihm und mit der Bergrettung zusammen haben wir an der bosnisch-serbischen Grenze, in der Nähe des großen, unvorhersehbaren, gefährlichen Flusses Drina, zwei Friedhöfe erneuert und 41 Grabsteine aufgestellt - für Menschen, die im Fluss ertrunken sind.

Baba Asim (2.v.r.) ist einer von vielen lokalen Helfer:innen im Netzwerk von SOS Balkanroute.

Was können Menschen in Österreich tun, um euch zu unterstützen?

Viel – das fängt bei ein paar Schuhen an und geht bis zu Geldspenden. Aber auch, dass man Medien anschreibt, Öffentlichkeit schafft, Info-Abende veranstaltet, bei denen man sich mit dem Thema befasst, oder Filme zum Thema zeigt - zum Beispiel den Film Shadow Game", der Jugendliche auf der Balkanroute begleitet. Es gibt es sehr viel Desinformation und Manipulation. Gefühlt jede Woche kommt irgendein neues Asyl- oder Migrationsthema auf, obwohl aktuell sehr wenige Leute nach Österreich kommen. Es geht also darum, Bewusstsein zu schaffen, darüber zu reden - ob in künstlerischer Form oder am Sonntag am Familientisch. Alles, was dazu beiträgt, diese Menschen wieder zu vermenschlichen und ihre Schicksale, Wege und Fluchtgründe ein bisschen zu verstehen, ist sinnvoll.

       

Geldspenden

IBAN: AT20 2011 1842 8097 8400
BIC: GIBAATWWXXX
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Welche Fluchtgründe sind dir schon begegnet?

Ganz unterschiedliche. Bei Leuten aus Syrien und Afghanistan ist es ganz klar der Krieg. In Marokko hingegen gibt es eine ganz eigene Bewegung an Jugendlichen, die die Schnauze voll haben von der Perspektivlosigkeit. Da hat sich eine ganze Subkultur an jungen Männern gebildet, die versuchen, nach Europa zu kommen, diesen Traum zu greifen, den ihnen der Kapitalismus vermittelt. Aus Nepal kommen Leute, weil sie dort nicht mehr existenziell leben können – genauso aus Bangladesch oder Pakistan. Jedenfalls flüchtet niemand ohne Grund. Niemand flüchtet, ohne sich das durchüberlegt zu haben.

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Welche Rolle spielen falsche Erwartungen?

Eine große. Jeder träumt von einem Foto vor dem Eiffelturm – das ist das häufigste, was ich gesehen habe. Ich habe auch Leute erlebt, die nach Wien gekommen sind und so geflasht waren und in dem Moment geglaubt haben, jetzt ist alles gemacht. Aber das ist leider eine Illusion. Weil dann der andere Kampf beginnt - nicht mehr der Kampf über die Grenzen, sondern mit den Behörden und dem rassistischen System. Viele von den jungen Marokkanern zum Beispiel können höchstens irgendwo in Frankreich im Schwarzmarkt verschwinden – hier in Österreich bekommen sie nur in absoluten Ausnahmefällen Asyl. Und das, obwohl in Österreich tausende Frisörlehrlinge fehlen und die besten Frisöre in den Flüchtlingscamps immer aus Marokko kommen. Es fehlen also Arbeitskräfte und trotzdem gibt es nicht die Überlegung, in Marokko Lehrstellen für bestimmte Berufe auszuschreiben, anstatt eine Anti-Schlepper-Kampagne zu machen. Es wäre alles leicht zu bewältigen, wenn es den Willen gäbe, die Menschen abzuholen, anstatt sie zurückzuhalten – was eh nicht gelingt.

Die Menschen abholen statt sie zurückzuhalten könnte ein guter Grundsatz für den Umgang mit Geflüchteten sein. Wie sieht - davon abgesehen - eine Welt aus, in der du gerne leben möchtest?

Ich wünsche mir eine solidarische Welt, eine Welt, die nicht so kapitalistisch ist. Eine Welt, wo man aufs soziale Gemeinwohl achtet und wo die Menschen und ihre Probleme im Vordergrund stehen und wo die Kluft zwischen Arm und reich nicht so groß ist, wie sie jetzt ist. Eine Welt, in der verschiedene Religionen nebeneinander leben, brüderlich – oder besser: geschwisterlich – und in Einigkeit. Im Grunde, wie es bis zu einem gewissen Teil das ehemalige Jugoslawien war.

Vielen Dank für das Gespräch!

Danke dir, danke euch!