Solidarität
Präsentismus, Burn-out, Corona und die Folgen: Wie uns Arbeit krank macht
Warum wir ein Gesundheitsproblem haben, das direkt mit unserer Arbeitswelt zusammenhängt - und wie wir da wieder rauskommen
Ein dichter Nebel im Kopf, starke Schmerzen in den Muskeln, Herz-Kreislauf-Probleme, ausgeprägte Reizempfindlichkeit und chronische Müdigkeit: Stefanie K.* war so angeschlagen, dass sie nicht mal mehr ihre E-Mails lesen konnte, und trotzdem wussten die meisten ÄrztInnen nicht, was ihr fehlte. Das war Ende 2020. Einige Wochen zuvor hatte sich die biomedizinische Analytikerin bei einer Arbeitskollegin mit Corona infiziert. Der Verlauf ist zunächst mild, und dennoch beginnt für Stefanie ein zermürbender Hürdenlauf – von Arzt zu Ärztin und zurück. „Die ersten beiden Monate nach meiner Corona-Infektion waren die schlimmsten für mich, keiner konnte mir sagen, weshalb ich nicht wieder fit werde“, erinnert sich Stefanie. Auch in der Arbeit gerät die erst 32-Jährige immer mehr in Bedrängnis, bis sie ihre Vorgesetzten schließlich dazu drängen, ihren Job aufzugeben. Für Stefanie bricht eine Welt zusammen: „Es war so, als hätte mir jemand, während ich strauchelte, noch zusätzlich ein Bein gestellt.“
100.000 Menschen von Long Covid betroffen
Als Mitarbeiterin einer medizinischen Einrichtung hatte Stefanie Glück im Unglück. Sie gehört zu den Beschäftigten in Unternehmen, die in der Liste der Berufskrankheiten für Infektionskrankheiten aufscheinen. Wäre Stefanie Beschäftigte im Handel oder in der Gastronomie oder würde sie in einem Büro arbeiten, dann hätte sie einfach Pech gehabt: keine Anerkennung, kein Schutz und eventuell nicht die bestmöglichen medizinischen Angebote und finanziellen Sicherheiten. „Die Begrenzung auf wenige Unternehmen muss gerade bei Covid-19 unbedingt entfallen, um einen umfassenden Unfallversicherungsschutz für alle ArbeitnehmerInnen in allen Branchen zu gewähren“, fordert ÖGB-Gesundheitsexpertin Claudia Neumayer-Stickler.
Long Covid zeigt eindrucksvoll, wie wenig Aufmerksamkeit allgemein auf das Thema Gesundheit im politischen Diskurs und im Berufsleben gelegt wird. Und auch, dass es keinen Plan für die unmittelbare Zukunft gibt, in der Long Covid jedenfalls eine große Rolle spielen wird. Auch und vor allem im Job. Allein in Österreich könnten Schätzungen zufolge deutlich mehr als 100.000 Menschen von Long Covid betroffen sein. Die Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, denn Long-Covid-Symptome sind vielfältig und es gibt eine Dunkelziffer an Betroffenen. Das wahre Ausmaß wird sich erst in Monaten, vielleicht Jahren zeigen. Eines ist allerdings sicher: Die Zahl der Betroffenen wird steigen.
Wenn du im Job Hilfe brauchst, egal ob es um deine Gesundheit geht oder du unfair behandelt wirst, wenn du dazu gedrängt wirst, etwas zu unterschreiben, oder gemobbt wirst, wende dich an deinen Betriebsrat oder an deine Gewerkschaft.
Alle Kontaktinfos zum ÖGB und zu deiner Gewerkschaft findest du auf
www.oegb.at/kontakt
Berufskrankheiten: eine Liste mit vielen Lücken
Was für Long Covid gilt, das gilt schon seit Langem für andere Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz. Sie werden stiefmütterlich behandelt. Überhaupt muss die Liste der Berufskrankheiten dringend überarbeitet werden, um mit den Entwicklungen in der neuen Arbeitswelt Schritt halten zu können, unterstreicht ÖGB-Expertin Neumayer-Stickler. Denn die Liste umfasst längst nicht alle krank machenden Arbeitsstoffe – genauso wenig wie alle Krebsarten. Und auch psychische Erkrankungen durch belastende Berufe oder Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats finden nicht die erforderliche Berücksichtigung.
Die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit ist seit Jahren die „durch Lärm verursachte Schwerhörigkeit“. Dahinter finden sich Infektionskrankheiten, bösartige Neubildungen der Lunge und Hauterkrankungen (siehe Grafik). Die letzte Aktualisierung der Berufskrankheitenliste liegt schon zehn Jahre zurück. In dieser Zeit sind gerade in der Arbeitswelt viele Faktoren hinzugekommen, die die Gesundheit maßgeblich beeinflussen können. „Deshalb fordern wir als Gewerkschaft eine regelmäßige Überarbeitung der Berufskrankheitenliste nach wissenschaftlichen Kriterien und die Schaffung eines ExpertInnengremiums, das dafür die Empfehlungen erarbeitet“, erklärt Neumayer-Stickler.
Ungesundes Österreich: viel Arbeit, wenig Freizeit
Auch kann man in Österreich schon seit Jahren ein Paradoxon beobachten: Hierzulande leben Menschen im Schnitt zwar länger als anderswo, in dieser Zeit sind sie aber weniger lange gesund. Die GesundheitsexpertInnen sind sich einig, dass das Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit ein wesentlicher Faktor für die Gesundheit ist. Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Migräne, Depressionen, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Burn-out und mehr: Viele Erkrankungen können unter anderem entstehen, wenn viel zu lange gearbeitet wird. „Deshalb steht der ÖGB für eine echte Arbeitszeitverkürzung – ohne diese kann Arbeit krank machen“, unterstreicht Neumayer-Stickler.
Laut Eurostat ist die Lebenserwartung in Österreich mit 82 Jahren zwar im EU-Schnitt vergleichsweise hoch, gleichzeitig aber sind die gesunden Lebensjahre (Anzahl der Jahre ohne Einschränkung der Aktivität und ohne Berufsunfähigkeit) mit 57 Jahren bei Frauen und 56,8 Jahren bei Männern sehr niedrig – und weit unter dem EU-Schnitt von 64,2 Jahren bei Frauen und 63,7 Jahren bei Männern. Auch die durchschnittliche kollektivvertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit von 38,8 Stunden in Österreich ist im Vergleich zu Ländern wie Frankreich (35,6 Stunden) sowie Dänemark und Großbritannien (beide 37 Stunden) zu lang.
Chefsache: Wo bleibt der Wohlfühlfaktor?
Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), sieht in der Gesundheitskompetenz, also im Wissen darüber, was in der Arbeit gesund hält und was krank macht, einen weiteren entscheidenden Grund für das Missverhältnis. „Der Wohlfühlfaktor am Arbeitsplatz ist ein ganz wesentliches Kriterium: Chefs mit schlechter Führung haben höhere Krankenstandsquoten als jene, die auf ihre KollegInnen schauen.“ Ein weiterer Grund ist mangelnde Bewegung – und die Versorgung chronisch kranker Menschen: „Sitzen ist das neue Rauchen. Großen Versorgungsbedarf gibt es auch bei Menschen, die an Diabetes, Lungenkrankheiten und Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden.“
Gegensteuern kann man mit mehr Angeboten in der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF): also alles, was Krankheit am Arbeitsplatz verhindert und die Gesundheit der MitarbeiterInnen erhält. Das fängt beim Angebot an gesunder Ernährung an, geht über Maßnahmen, die psychische Belastungen reduzieren, und beinhaltet auch Raucherprävention. Auch sollten BetriebsrätInnen oder Gesundheitsvertrauenspersonen zurate gezogen und dort, wo es keine gibt, sollte die Unterstützung der Gewerkschaften oder auch des Arbeitsinspektorats eingeholt werden.
Bedingungsloses Arbeiten im Homeoffice?
Die Pandemie mag vieles verändert haben, eines ist jedoch gleich geblieben: Viele ArbeitnehmerInnen, die krank werden, arbeiten trotzdem erst mal weiter. Besonders im Lockdown hat sich die oft schwierige Abgrenzung zwischen Arbeitszeit und Freizeit noch einmal verschärft. „Der Rückgang bei den Krankenständen im vergangenen Jahr ist darauf zurückzuführen, dass sich viele ArbeitnehmerInnen im Homeoffice nicht krankmelden, obwohl sie krank sind“, erklärt Neumayer-Stickler. Die Abgrenzung zwischen dem privaten Daheimsein und dem Zuhause als Arbeitsort ist mitunter unklar. Und dann sind da noch Druck, Stress und Unsicherheit im Job. Risikofaktoren, die sich in der Pandemie erhöht haben.
„Viele ArbeitnehmerInnen befürchten zudem negative berufliche Konsequenzen, die sich durch einen Krankenstand ergeben und die in einem äußerst angespannten Arbeitsmarkt eine längere Arbeitslosigkeit bedeuten könnten“, fügt die ÖGB-Gesundheitsexpertin hinzu. Zukunftsängste, auch was den Job betrifft, lösen psychische Probleme aus. Nicht zuletzt seit der Pandemie leiden viele ArbeitnehmerInnen und auch junge Erwachsene stark darunter. Auch psychische Belastungen werden im Arbeitsumfeld viel zu oft ignoriert.
ÖGB fordert Gesundheitszentren
Psychische Belastungen können aber auch durch Arbeitsunfähigkeit hervorgerufen werden, wie es bei Stefanie der Fall war. „Dass meine Covid-Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt wurde, war für mich ein wichtiger Schritt“, resümiert die junge Frau. Um Long-Covid-Betroffene mit Augenmaß behandeln zu können, braucht es eigene Gesundheitszentren, fordert der ÖGB. Davon hätte auch Stefanie profitieren können: „Mein Weg bis zu einer passenden Behandlung war steinig und mühsam, weil es keine gebündelte Expertise an einem Ort gab.“
* NACHNAME WIRD AUF WUNSCH NICHT GENANNT