Gewerkschaftsgeschichte
Vor 145 Jahren: Amalie Seidel wurde geboren
Gewerkschafterin, Frauenrechtskämpferin, Nationalratsabgeordnete und Organisatorin des ersten Frauenstreiks in Österreich
Amalie Seidel, geboren im Februar 1876 als Amalie Ryba, war eine unbeugsame Frau: Sie stand für ihre Überzeugungen auf und selbst Verhaftungen und Verurteilungen zu Kerkerstrafen konnten sie nicht davon abbringen, für Frauenrechte, Gesundheitsversorgung und gegen Faschismus aufzutreten – um ein besseres Leben für alle zu erkämpfen.
Denn sie wusste, was Armut, Hunger und Trauer bedeuten. Dreizehn ihrer Geschwister starben wegen der schlechten medizinischen Versorgung, der elenden Wohnung und des andauernden Lebensmittelmangels. Um zum Familienbudget beizutragen, brach sie mit zwölf Jahren die Schule ab, begann als Dienstmädchen zu arbeiten und wechselte später als Packerin in das Magazin einer Fabrik.
Trotz langer Arbeitszeiten nahm ihr gewerkschaftlich organisierter Vater sie mit zu Veranstaltungen und versorgte sie mit politischen Büchern. Mit 16 Jahren trat sie dem Gumpendorfer Arbeiterbildungsverein bei, hörte dort Frauenrechtskämpferinnen und nur ein Jahr später stand sie schon selbst beim ersten Frauenstreik Österreichs an vorderster Front.
Der Frauenstreik
Angespornt von den Feierlichkeiten zum 1. Mai im Jahr 1893 hielt sie in der Fabrikhalle eine Rede, forderte ihre Kolleginnen auf, für Frauen- und Arbeitsrechte aufzustehen und der Gewerkschaft beizutreten. Der Chef hörte zu, vermutete Aufruhr und warf sie hinaus.
Als sie an dem Tag spätabends nach Hause kam, erlebte sie eine Überraschung. Ihre Kolleginnen warteten auf sie und verkündeten, solange streiken zu wollen, bis sie wiedereingestellt werden würde. Seidel überzeugte sie aber davon, lieber für höheren Lohn, Arbeitszeitverkürzung von dreizehn auf zehn Stunden täglich und die Verbesserung des Arbeitnehmerinnenschutzes zu streiken. Gesagt, getan – der Streik dauerte drei Wochen und endete erfolgreich.
Wir müssen vom 14. Jahr an in den Fabriken arbeiten (…), dann werden wir wohl mit 20 im Stande sein, unsere Interessen zu wahren. Jedenfalls besser zu wahren als die Herren, die heute im Parlament sitzen.
Drei Wochen Kerker
Im Jahr darauf (1894) resultierte Seidels Engagement für das Frauenwahlrecht mit einer dreiwöchigen Kerkerstrafe. Der Richter sah den Tatbestand der „Herabwürdigung des Reichsrats“ als eindeutig bewiesen an. Hatte sie doch bei einer öffentlichen Rede die Ablehnung des Frauenwahlrechts durch den Reichsrat kritisiert: „Wir müssen vom 14. Jahr an in den Fabriken arbeiten (…), dann werden wir wohl mit 20 im Stande sein, unsere Interessen zu wahren. Jedenfalls besser zu wahren als die Herren, die heute im Parlament sitzen.“
Die ersten Frauen im Parlament
Bis Amalie Seidel die Interessen der Frauen im Parlament und im Wiener Gemeinderat wahren konnte, brauchte es aber noch viele Kämpfe, Demonstrationen und auch den Internationalen Frauentag ab dem Jahr 1911. Aber kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges (1918) war es soweit: Das Frauenwahlrecht wurde eingeführt und im Jahr 1919 saßen die ersten acht Frauen im Nationalrat – darunter war auch Amalie Seidel.
Gemeinsam trugen die Parlamentarierinnen ihre Forderungen von der Straße und aus unzähligen Versammlungen ins Parlament: Jugendfürsorge, Erhöhung des Arbeitslosengeldes, Ausbau des Mutterschutzes und der Gesundheitsversorgung, mehr Mittel zur Bekämpfung der „Wiener Krankheit“, der Tuberkulose sowie der Geschlechtskrankheiten, die Verabschiedung des Hebammengesetzes und des Hausgehilfengesetzes.
Manche der Forderungen wurden erreicht, andere mussten von ihren Nachfolgerinnen erkämpft werden, wie die Reform des Familienrechts im Jahr 1975 oder die Abschaffung des Abtreibungsverbots im Jahr 1974. Und so manches wartet heute noch auf die Umsetzung wie gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Gleich geblieben ist jedoch der Kampf gegen Faschismus.
Gegen dunkle Gewalten
Bei zahlreichen Veranstaltungen warnte Amalie Seidel schon Ende der 1920er-Jahre vor dem zunehmenden Faschismus. Sie stand auf „gegen die dunklen Gewalten“, die die „mühselig erkämpften Rechte des arbeitenden Volkes“ wieder abschaffen wollten – und schließlich nach den Februarkämpfen im Jahr 1934 auch taten.
Die Austrofaschisten verboten die freien Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und verhafteten tausende FunktionärInnen – darunter auch Seidel. Obwohl ihr nichts vorgeworfen werden konnte, wurde sie zu einer Geldstrafe verurteilt und nach knapp zwei Monaten Haft wieder entlassen. All das hinderte sie nicht daran, im Untergrund Widerstand zu leisten. Sie agierte unter dem Decknamen „Ly“ und wöchentlich trafen sich in ihrer Wohnung illegale GewerkschafterInnen, um Widerstandsaktionen zu besprechen.
Wahrer Mut
Wahren Mut zeigte sie auch während des NS-Regimes. Sie heiratete nach ihrer Scheidung von Richard Seidel ihren langjährigen Freund, den jüdischen Gemeinderat Siegmund Rausnitz, um ihn vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu schützen. Der Großteil ihrer Familie emigrierte ins Ausland und sie selbst wurde von den Nationalsozialisten am 22. August 1944 verhaftet und bis zum 2. September 1944 im Wiener Landesgericht festgehalten.
Nach Kriegsende zog sie sich mit 69 Jahren aus dem politischen Leben zurück.
Emanzipationskampf
Sie starb am 11. Mai 1952. Die Arbeiter-Zeitung schrieb im Nachruf: „Sie gehörte zu jener Gruppe von Frauen, die in den Frühzeiten des weiblichen Emanzipationskampfes (…) überzeugend das Recht der Frau auf gleiche Geltung nachgewiesen hat.“
Heute kämpfen ihre Nachfolgerinnen weiter für die Durchsetzung von Forderungen, denn es gibt noch viel zu tun. Daher werde jetzt auch du Gewerkschaftsmitglied und unterstütze die ÖGB-Frauen – ganz im Sinne von Amalie Seidel – bei ihrem Kampf für ein besseres Leben für alle!
Lebenslauf:
Amalie Seidel (geborene Ryba)
Geboren: 21.02.1876 in Wien
Gestorben: 11.05.1952 in Wien
Beruf: Textilarbeiterin
1893: Mitorganisatorin des ersten Frauenstreiks in Österreich
1894: Verurteilung zu dreiwöchiger Haftstrafe wegen Herabwürdigung des Reichsrats
1897: Mitbegründerin der Konsumgenossenschaften
1903 - 1932: Vorsitzende der sozialdemokratischen Frauenreichskonferenzen
1918 - 1923: Als erste Frau Vorsitzende-Stellvertreterin im Präsidium des Wiener Gemeinderats
1919 - 1920: Stadträtin
1920: Erste Vizepräsidentin des Niederösterreichischen Jugendhilfswerks
1922 - 1931: Vorsitzende-Stellvertreterin des Wiener Jugendhilfswerks
1919 - 1934: Nationalratsabgeordnete
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Peter Leinfellner spricht im Podcast Nachgehört/Vorgedacht mit Dr. Katharina Mader vom Institut für Heterodoxe Ökonomie Wirtschaftsuniversität Wien und Mag. Elisabeth Scherrer, Professorin an der Tourismusschule Wassermanngasse in Wien über Frauen und Kinder am Limit.