Gründung der Zweiten Republik
Am 13. April 1945 fiel der letzte Schuss des Zweiten Weltkriegs in Wien. Nur 14 Tage später trat die erste Regierung des neu gegründeten Österreichs zusammen.
Im April 1945, während die letzten Kämpfe des Zweiten Weltkriegs tobten, spielte sich in Österreich ein entscheidender Wendepunkt ab: die Befreiung Wiens und die Gründung der Zweiten Republik.
Die letzten Kriegstage
Der Bau-Holz-Gewerkschafter Josef Battisti stand Anfang April 1945 am Gartenzaun seines Hauses. Es zog eine Herde Rinder vorbei. Battisti fragte den Viehtreiber, was denn los sei. „Die Russen kommen“, war die Antwort.
Am 29. März 1945 hatten die sowjetischen Truppen die Grenze im kleinen Ort Klostermarienberg überschritten und kämpften seither gegen das letzte Aufgebot der Nationalsozialisten. Am 6. April 1945 begannen die Sowjets den Kampf um Wien. Da waren Battisti und seine Frau schon in ihre kleine Wohnung in der Kenyongasse in Wien zurückgekehrt und auf der benachbarten Mariahilfer Straße schossen die sowjetischen Mehrfachraketenwerfer. Die Nationalsozialisten begingen Endphaseverbrechen, richteten Widerstandskämpfer hin, ermordeten Juden und Jüdinnen, schickten Gefangene auf Todesmärsche durch Österreich und sprengten in Wien alle Brücken. Dabei war der Krieg für die Nationalsozialisten schon verloren. Aus dem Norden, Westen und Süden rückten die Heere der USA, Frankreichs und Großbritanniens heran.
Mutige Gewerkschafter
In Wien verhinderten der Gewerkschafter Karl Hein und seine Kollegen gerade noch die Sprengung der Hofburg durch die SS. Der Gewerkschafter Rudolf Wiesbauer gründete zeitgleich am Nordwestbahnhof einen Aktionsausschuss. Auch wenn sie die SS nicht daran hindern konnten, den Bahnhof und die Speditionsmagazine niederzubrennen, gelang es ihnen, Waggons mit Mehl, Kokosfett und Tabak zu retten.
Die Gründung des ÖGB und die Ausrufung der Zweiten Republik
Am 11. April 1945 klopfte es an Battistis Haustür. Der Bau-Holz-Gewerkschafter Johann Böhm stand davor. In nur drei Tagen legten sie gemeinsam mit anderen Gewerkschaftern die Grundsteine für den überparteilichen Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB). Am 15. April 1945 wurde der ÖGB im Direktionssaal des Westbahnhofs gegründet. Johann Böhm wurde Vorsitzender, Battisti stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Bau-Holzarbeiter.
Die Gründung der Zweiten Republik
Die Sowjets richteten inzwischen Ortskommandaturen im Burgenland und in Niederösterreich ein. Der ehemalige Staatskanzler Österreichs (1918–1920) und Parlamentspräsident (1931–1933) Karl Renner und die Sowjets sprachen über die Einsetzung einer provisorischen Regierung und somit die Wiederherstellung Österreichs als eigenständigen Staat. Am 14. April wurde die SPÖ neu gegründet und am 17. April die ÖVP.
Am 27. April 1945 trat die provisorische Regierung im Wiener Rathaus erstmals zusammen. Renner wurde wieder Staatskanzler, seine Stellvertreter stammten aus den Parteien KPÖ, ÖVP und SPÖ. Jedes Staatssekretariat wurde jeweils mit einem Parteienvertreter besetzt.
Gewerkschafter:innen in der provisorischen Regierung
Viele der 41 Regierungsmitglieder waren während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslager deportiert worden, wegen Widerstands inhaftiert gewesen oder ins Exil gegangen. Einige der Mitglieder waren auch Gewerkschafter:innen: Helene Postranecky war als Kommunistin die erste Frau in der Regierung und Unterstaatssekretärin für Volksernährung. Der ÖGB-Vorsitzende Johann Böhm wurde Staatssekretär für Soziale Verwaltung, und der eben erst aus dem Konzentrationslager befreite Eisenbahnergewerkschafter Franz Rauscher Unterstaatssekretär im Staatsamt für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung.
Sie alle waren Zeugin und Zeugen, als Karl Renner am 27. April 1945 die Zweite Republik Österreich ausrief und die Unabhängigkeitserklärung verlas. Er richtete sich auch mit einem Appell an die Bevölkerung: „Rafft euch auf! Helft mit, das vormalige unabhängige Gemeinwesen der Republik Österreich wieder aufzurichten!“
Warnung an die Nationalsozialisten
An die Nationalsozialisten gewandt sagte er: „Nur jene, welche aus Verachtung der Demokratie und der demokratischen Freiheiten ein Regime der Gewalttätigkeit, des Spitzeltums, der Verfolgung und Unterdrückung über unserem Volke aufgerichtet und erhalten haben, welche das Land in diesen abenteuerlichen Krieg gestürzt und es der Verwüstung preisgegeben haben und noch weiter preisgeben wollen, sollen auf keine Milde rechnen können.“
Der Wiederaufbau
Vor der Regierung lag eine Herkulesaufgabe: Sie war nur in den von den Sowjets besetzten Gebieten anerkannt; im ganzen Land litten die Menschen unter Hunger, es gab kaum Strom oder Heizmaterial; Straßen und öffentliche Verkehrseinrichtungen waren zerstört; Industrien von Bomben zerschossen oder von den Sowjets konfisziert worden. Trotzdem gelang es am 1. Mai 1945 das Verfassungs-Überleitungsgesetz zu verabschieden – die Verfassung aus dem Jahr 1929 galt wieder.
Am 4. Juli 1945 errichteten die Alliierten ihre Kommission und somit die Militärregierung über das gesamte Staatsgebiet. Erst am 20. Oktober 1945 wurde die provisorische Regierung von den Alliierten anerkannt.
Da waren schon Überlebende aus den Konzentrationslagern oder aus dem Exil nach Österreich zurückgekehrt – einige davon rechtzeitig, um sich bei den ersten freien Nationalratswahlen seit 15 Jahren am 25. November 1945 als Kandidat:innen zu bewerben.
Die Gründung der Zweiten Republik war ein Meilenstein in der österreichischen Geschichte – ermöglicht durch das Engagement von Widerstandskämpfer:innen, Gewerkschafter:innen und Politiker:innen, die trotz widrigster Umstände den Grundstein für ein neues demokratisches Österreich legten.