Gewerkschaftsgeschichte
Parlament der Arbeiter:innen
Zwischen dem 1. ÖGB-Bundeskongress 1948 und dem 20. im Jahr 2023 liegen 75 Jahre voller aufgestellter Forderungen, gefeierter Erfolge, aber auch dramatischer Ereignisse. Das Ziel war aber immer gleich: Ein gutes Leben für alle.
Die Geschichte der ÖGB-Bundeskongresse begann in den letzten Kriegstagen im April 1945. Drei Dutzend Gewerkschafter trafen sich, um den Österreichischen Gewerkschaftsbund zu gründen. Sie waren optimistisch, dass der erste Bundeskongress bald stattfinden würde. Es dauerte aber bis Mai 1948, denn es gab einige Schwierigkeiten zu überwinden. Zuerst mussten die Alliierten den ÖGB anerkennen, dann die von den Nationalsozialisten enteigneten Gewerkschaftshäuser zurückerlangt und die in den Bundesländern lose gebildete Gewerkschaften unter das Dach geholt werden.
Keine Regierung unseres Landes kann ohne den Gewerkschaftsbund zur Tagesordnung übergehen.
Am 18. Mai 1948 war es so weit, der 1. ÖGB-Bundeskongress wurde eröffnet. Das Parlament der Arbeiter:innen tagte zum ersten Mal. Der ÖGB-Präsident Johann Böhm und das Präsidium wurden gewählt und die Statuten beschlossen.
Das Ziel des ÖGB: Sicherung eines erträglichen Lebensstandards
Bundeskanzler Leopold Figl sagte: „Keine Regierung unseres Landes kann ohne den Gewerkschaftsbund zur Tagesordnung übergehen.“ Er sprach wohl aus Erfahrung. Denn die Delegierten freuten sich über die Errungenschaften der letzten Jahre, wie das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz (1947), das Arbeiter- und Bauarbeiterurlaubsgesetz (1946), Kollektivvertragsgesetz (1947) und das Betriebsrätegesetz (1947).
Die Gewerkschaftsbewegung setze sich auch neue Ziele. Ganz voran stand die Sicherung eines erträglichen Lebensstandards im zerstörten Österreich, durch Kollektivvertragsabschlüsse der Teuerung entgegenzuwirken, preissenkende Maßnahmen durchzusetzen und gegen die drohende Inflation zu kämpfen.
Keine Wunder, keine Sensationen
Beim 2. ÖGB-Bundeskongress im Oktober 1951 zeigte sich, dass die demokratische und überparteiliche Ausrichtung des ÖGB erhalten blieb. Trotzdem mahnte der Pressechef Fritz Klenner, man dürfe sich vom 2. Bundeskongress weder Sensationen noch Wunder erwarten. Für die knapp eine Million Mitglieder klangen aber die Verabschiedung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (1949), des Wohnbeihilfengesetzes (1951) sowie die Hebung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung oder die Sicherung der Realeinkommen durch Kollektivverträge schon wie ein Wunder.
Doch eine Sensation
Eine Sensation war hingegen, dass der 3. ÖGB-Bundeskongress im Oktober 1955 in einem freien Österreich tagte. Der Staatsvertrag war am 15. Mai 1955 von den Alliierten und der österreichischen Bundesregierung unterzeichnet worden. Das wäre eigentlich schon ein guter Grund gewesen zu feiern. Aber es gab noch mehr.
Der ÖGB zählte in einer langen Liste seine Erfolge auf, vom Sozialversicherungsgesetz (1955) über das Heimarbeitsgesetz (1954) bis zum Jugendeinstellungsgesetz (1953). Gleichzeitig legte der ÖGB ein 10-Punkte-Progamm vor, das die Verhütung der Preissteigerungen, Arbeitszeitverkürzung auf 40-Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich (erreicht 1975) und die Verlängerung des Urlaubs (stufenweise erreicht bis 1986) sowie den Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen beinhaltete.
Teuerung – ein Dauerthema
Das Thema Teuerung und Maßnahmen dagegen waren von nun an ein wiederkehrender Tagesordnungspunkt bei den ÖGB-Bundeskongressen. Immer wieder wurden Programme zur Preissenkung vorgestellt und auch oft umgesetzt, wie die Errichtung der Paritätischen Kommission 1957 oder des Wirtschaftsbeirats 1963. Auch beim 20. ÖGB-Bundeskongress im Juni 2023 wird die Teuerung wieder diskutiert werden, obwohl der ÖGB bereits einen Katalog zu Preissenkungen vorgelegt hat und diesen mit der Kampagne „Preise Runter“ unterstrichen hat.
Schreckensgespenst Inflation
Der 4. ÖGB-Bundeskongress im September 1959 brachte Neues. So waren etwa erstmals Repräsentanten der Kirche und der Unternehmerorganisationen eingeladen. Der damalige ÖGB-Präsident Franz Olah warnte vor dem Schreckensgespenst Inflation, mahnte Schutz vor der Gefahr der Automation ein und zählte die Gewerkschaftserfolge wie den Generalkollektivvertrag zur Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 45-Wochenstunden oder die Verabschiedung des Mutterschutzgesetzes (1957) auf.
Darauf folgten viele weitere Gewerkschaftsforderungen, wie zum Beispiel die Verabschiedung des Berufsausbildungsgesetzes (erreicht 1969) oder, die Kodifizierung des Arbeitsrechts (erreicht 1974). Die Delegierten applaudierten bei der Verkündung, dass die Verdienste der Arbeiter:innen und Angestellten über den Lebenshaltungskosten lagen.
Die Negativliste
Der 5. ÖGB-Bundeskongress im September 1963 stand ganz im Zeichen der angespannten wirtschaftlichen und sozialpolitischen Lage. Kurz zuvor versandte die Industriellenvereinigung eine „Negativliste“, dieser stellte der ÖGB eine Positivliste entgegen. Die Industriellenvereinigung forderte etwa: Keine Gewährung der Angestelltenrechte an die Arbeiter:innen (erreicht 2019), keine Arbeiterabfertigung (vom ÖGB 1979 erreicht), keine Arbeitszeitverkürzung (erreicht 1969) oder keine Unterbrechung des Urlaubs durch Krankheit (erreicht 1974). Ähnliches passierte auch bei weiteren Bundeskongressen 1995 und 2018.
Überraschungsparty der Unternehmer
Schwere Zeiten standen dem ÖGB im Jahr 1995 bevor. Österreich war am 1. Jänner 1995 der EU beigetreten und es gab laute Rufe nach Sparmaßnahmen, wie Lohnreduktion, Kürzungen beim Arbeitslosengeld und anderen Sozialleistungen sowie Arbeitszeitverlängerung. Verzetnitsch antwortete darauf: „Starke Gewerkschaften stören die Überraschungsparty der Unternehmer und sie sind der Kommissar Rex des Sozialstaates.“ Der ÖGB bewährte sich als guter Wachhund der Arbeiter:innenrechte.
Wir sind selbstbewusst
Wie schon beim 5. und 13. Bundeskongress gab es auch beim 19. ÖGB-Bundeskongress im Juni 2018 schlechte Nachrichten. Exakt an dem Tag, an dem beim Kongress die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung beschlossen wurde, legte die schwarz-blaue Bundesregierung das Gegenteil fest, den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche.
ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian antwortete darauf: „Wir sind eine selbstbewusste Gewerkschaftsbewegung, und wir werden all unsere Kräfte bündeln, um die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass für Arbeitnehmer:innen ein gutes Leben möglich ist.“ Es folgten Konferenzen, Demonstrationen und Aktionen, die negativen Auswirkungen des 12-Stunden-Tages konnten in den Kollektivvertragsverhandlungen der Gewerkschaften abgefedert werden.
ÖGB ist keine Oppositionspartei
Friedlicher ging es beim 6. ÖGB-Bundeskongresses im September 1969 zu. Das Motto „Vollbeschäftigung sichern – Wirtschaftswachstum fördern – Volkseinkommen gerecht verteilen.“ Eine starke Ansage während einer Rezession und der ÖVP-Alleinregierung (1966–-1970). Der damalige ÖGB-Präsident Anton Benya beteuerte die Überparteilichkeit des ÖGB.
Benya sagte: „Der Österreichische Gewerkschaftsbund ist weder eine Oppositionspartei noch ein Teil des Staats- und Verwaltungsapparats. (…) Unsere Einstellung gegenüber der Regierung hängt davon ab, in welchem Maße diese den berechtigten Wünschen, Anliegen und Bedürfnissen der Arbeitnehmer:innen entspricht.“
Mit der ÖVP-Alleinregierung war der ÖGB schlussendlich nicht unzufrieden. Nach etwas Druck wurde das Arbeitszeitgesetz, das Arbeitsmarktförderungsgesetz und das Berufsausbildungsgesetz verabschiedet.
Menschen sind unsere Stärke
Gänzlich unzufrieden war hingegen der ÖGB mit der schwarz-blauen Bundesregierung (2000-2006). Der 15. ÖGB-Bundeskongress im Oktober 2003 stand unter dem Motto „Menschen sind unsere Stärke“ und das hat der ÖGB eindrucksvoll bewiesen:
Auf die Ankündigungen des geplanten Sozialabbaus zwischen den Jahren 2000 und 2003 fanden österreichweite Aktionen, Demonstrationen und Streiks statt. Das Ziel war klar: Die soziale Absicherung der Menschen zu erhalten. Auf Druck der Menschen und des ÖGB musste die Bundesregierung einiges zurücknehmen, wie die Ambulanzgebühren oder die Besteuerung der Unfallrenten.
Die glückliche Entwicklung, die unsere Republik genommen hat, wäre nicht denkbar ohne die zielbewusste und weise Politik des ÖGB.
The oscar goes to ÖGB
Vor dem 7. ÖGB-Bundeskongress im September 1971 warnte ein Redakteur der „Solidarität“ vor zu hohen Erwartungen: „Der ÖGB kann es sich nicht leisten, Entscheidungen wie ein Zauberer aus dem Hut zu ziehen.“ Nur um dann beim 8. ÖGB-Bundeskongress im September 1975 in Jubel auszubrechen.
Er schrieb von einem Erfolgsteam, das eine fast beispiellose Bilanz vorlegen könne. Rund 80 Prozent aller Forderungen seien erfüllt. Drei Steuersenkungen, bei der Vollbeschäftigung der absolute Gipfel erreicht, der Urlaub auf fünf Wochen verlängert, die Familienrechtsreform (1975), das Arbeitsverfassungsgesetz (1974) und das Jugendvertrauensrätegesetz (1972) verabschiedet. Er schloss mit den Worten „Man muss dem ÖGB den Wirtschafts-Oscar verleihen“ – auch wenn es diesen gar nicht gibt.
Der damalige Bundespräsident Rudolf Kirchschläger setzte noch eins drauf. Er sagte: „Die glückliche Entwicklung, die unsere Republik genommen hat, wäre nicht denkbar ohne die zielbewusste und weise Politik des ÖGB.“
Heu in der Scheune
Auch nach dem 12. ÖGB-Bundeskongress im Oktober 1991 griff der Redakteur der „Solidarität“ wieder in die Tasten: „Es war ein selbstbewusster Kongress, stolz auf die Erfolge, die die Gewerkschaften in die Scheune gebracht haben. (…) Schließlich waren die letzten vier Jahre ein stetiger Wechsel zwischen Euphorie und Ernüchterung.“
Euphorisch waren die Gewerkschafter:innen über Erfolge wie, dass der Mindestlohn von 10.000 Schilling für mehr als 200.000 Betroffene erreicht worden war, die Steuerreform 90 Prozent der Berufstätigen auf der Gewinnerseite verbuchte, die Verabschiedung des Familienpakets und dass erstmals zwei Frauen im Bundespräsidium waren. Ernüchternd war die Ungewissheit über die Auswirkungen des bevorstehenden EU-Beitritts.
Beim 15. ÖGB-Bundeskongress waren wieder zwei Frauen im Präsidium, die Leitende Sekretärin Roswitha Bachner und die Frauen-Vorsitzende Renate Csörgits.
Jene, die glauben, sie müssen nicht mehr mit der Kampf- und Schlagkraft des ÖGB rechnen, werden sich täuschen.
Brisanter Bundeskongress
Im März 2006 erschütterte die BAWAG-Affäre die Gewerkschaftsbewegung, der ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch musste gehen und die neue Gewerkschaftsspitze entschied die Bank zu verkaufen. Unter dem Motto „Was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. Die Zukunft können wir gestalten“ startete der ÖGB im Mai 2006 eine Strukturreform.
Beim 16. ÖGB-Bundeskongress am 23. Jänner 2007 um 18.35 Uhr begann die Zukunft des ÖGB. Die Reform wurde von den Delegierten einstimmig angenommen. Das Resultat war, mehr Mitbestimmung für Mitglieder, begrenzte Spitzeneinkommen, und eine Frauenquote in Gremien. Im Vorstand waren nun von 16 Mitgliedern sechs Frauen.
Der neue ÖGB-Präsident Rudolf Hundstorfer sagte: „Jene, die glauben, sie müssen nicht mehr mit der Kampf- und Schlagkraft des ÖGB rechnen, werden sich täuschen.“ Er sollte Recht behalten.
In den nächsten Jahren konnten einige Gewerkschaftsforderungen durchgesetzt werden, wie etwa: das Lohn- und Sozialdumpinggesetz (2011) oder die Steuerreform (2015) und auch dass die Internatskosten der Berufsschüler:innen künftig vom Insolvenzfonds übernommen werden (2018).
Gäbe es keine Gewerkschaften, müsste man sie erfinden.
Strenge Regeln
Der 18. ÖGB-Bundeskongress im Juni 2013 stand im Zeichen der abflauenden Weltwirtschaftskrise. Die Sozialpartner hatten durch schnelle Kurzarbeitsvereinbarungen hohe Arbeitslosigkeit verhindert, aber die Staatskassen waren leer. Hundstorfers Nachfolger, Erich Foglar sagte: Auf die Krise darf nicht Sozialabbau folgen, es muss strenge Regeln für Finanzmärkte geben.“
Wir fürchten uns vor niemanden
„Wir werden nicht tatenlos dabei zusehen, wie über die Interessen der Arbeitnehmer:innen drübergefahren wird,“ sagte der neu gewählte ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian beim 19. ÖGB-Bundeskongress im Juni 2018 und meinte damit den geplanten Sozialabbau durch die türkis-blaue Regierung.
Deren Programm las sich wie ein Slasherfilm, Opfer waren die Arbeitnehmer:innen: Verkürzung der Altersteilzeit, Arbeitszeitverlängerung, Beendigung der Aktion 20.000, Abschaffung der Hacklerregelung, „Reform der Sozialversicherung“, Abschaffung der der Jugendvertrauensräte.
Die Antwort kam postwendend. Die ÖGJ-Vorsitzende Susanne Hofer und Kolleg:innen verklebten sich die Münder und stellten sich bei der Rede der Sozialminister Beate Hartinger-Klein (FPÖ) demonstrativ auf die Bühne. Die Regierung ruderte zurück. 2019 war klar, dass die Jugendvertrauensräte weiterhin bestehen werden.
Stachel im Fleisch
Katzian versprach: „Wir sind per se, der Stachel im Fleisch der Regierung und der Wirtschaftskammer.“ 1.200 Betriebsrät:innen berieten im Juni 2018 über Maßnahmen gegen den 12-Stunden-Tag, es fanden hunderte Betriebsversammlungen, viele Aktionen statt und 100.000 Menschen demonstrierten dagegen. Das Gesetz konnte nicht verhindert werden, aber die Gewerkschaften griffen auf ein altbewährtes Mittel zurück: die Kollektivverträge.
Statt der geplanten Umwandlung der Notstandshilfe in Mindestsicherung gelang es, eine langjährige Gewerkschaftsforderung durchzusetzen, die Abschaffung der Anrechnung des Partnereinkommens bei der Notstandshilfe (2018). Die Liste der Erfolge lässt sich weiterschreiben: Rechtsanspruch auf das Papamonat (2019), die volle Anrechnung der Karenzen auf dienstzeitabhängige Ansprüche (2019) oder die Wiedereinführung der Aktion 20.000 (2019).
Aber das und was der ÖGB während der Corona-Pandemie erreicht hat, erfahren sie beim 20. ÖGB-Bundeskongress im Juni 2023.