Gesundheitssystem
„Der freie Markt kann nicht einmal ausreichend Schutzmasken zur Verfügung stellen“
ÖGK-ArbeitnehmerInnen-Obmann Huss erklärt, warum ein öffentliches Gesundheitssystem besser ist als ein privates
Die Corona-Krise ist auch eine Krise der Gesundheitssysteme. Welches Land geht damit gut um und wo steht das System schon vor kurz dem Kollaps? Darüber hat oegb.at berichtet.
Andreas Huss, ArbeitnehmerInnen-Obmann in der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), kennt die Stärken und Schwächen eines Gesundheitssystems gut. Im Gespräch mit oegb.at wirft er einen kritischen Blick auf die Bruchstellen der Gesundheitsversorgung und erklärt, was jetzt in der Krise für den Gesundheitsbereich wichtig ist.
oegb.at: Was zeichnet das österreichische Gesundheitssystem im Vergleich zu anderen in der Krise aus?
Andreas Huss: Wir haben in Österreich eine im internationalen Vergleich hohe Zahl an Akut- und Intensivbetten zur Verfügung, die in so einer Krisensituation natürlich helfen, weil die Belastungsgrenze dadurch viel höher ist als zum Beispiel in Italien, wo in den letzten Jahren massiv Betten eingespart wurden. Hier merken die ItalienerInnen die Auswirkungen einer neoliberalen Sparpolitik der letzten Jahre am eigenen Leib. Auch England hat nur sechs Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, wir in Österreich haben 24.
Darüber hinaus haben wir einen sehr gut aufgestellten niedergelassenen Bereich in den Ordinationen, vor allem die Allgemeinmediziner haben ihre Praxen in der Krise zum größten Teil offen gehalten für Ihre PatientInnen und sich damit als sehr verlässliche Ansprechpartner für unsere Versicherten erwiesen.
Warum ist Österreich hier besser aufgestellt?
Vieles wurde beibehalten und nicht gestrichen. Daher haben wir anderen Ländern einiges voraus – und hier sollten wir auch in den nächsten Jahren drauf achten, dass nicht wieder die „Sparer im System“ auftreten und diese hart erarbeiteten Vorteile zerstören.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Zum Beispiel der Rechnungshof, dieser musste ja in den letzten Wochen schon einige Sparempfehlungen zurücknehmen. Auch das neoliberale Dogma, alles dem Markt zu überlassen, der dann schon alles regeln würde, wurde durch die Krise entzaubert. Wir haben gesehen, dass der freie Markt nicht einmal in der Lage war, ausreichend brauchbare Schutzmasken zu Verfügung zu stellen. Die Privatspitäler und Privatärzte hatten ihre Leistungen weitgehend eingestellt. Das öffentliche System hat die Menschen in der Krise versorgt.
Wie bewerten Sie soweit die Arbeit der ÖGK in der Krise?
Die ÖGK hat sehr schnell reagiert. Sie hat dabei alle möglichen Maßnahmen umgesetzt, damit das Ziel der Kontaktreduktionen realisiert werden konnte. Innerhalb kürzester Zeit wurden in Zusammenarbeit mit unseren Vertragspartnern Leistungen ermöglicht, wie z. B. Rezept, Behandlung, Beratung und Krankmeldung per Telefon.
Wo sehen Sie im österreichischen Gesundheitssystem noch Handlungsbedarf?
Gerade jetzt, wo wir sehen, wie wichtig freie Krankenhausressourcen sind, sollten wir uns noch mehr dem Ausbau der tagesklinischen Operationen zuwenden. Bei leichten Operationen können die Krankenhausbetten so geschont werden, die PatientInnen können schnell wieder nach Hause und auch die Gefahr einer Ansteckung mit den Krankenhauskeimen bleibt gering. Derzeit werden von der einen Million Operationen, die jährlich in Österreich vorgenommen werden, knapp über 20 Prozent tagesklinisch erledigt. Da geht noch mehr.
Dann gibt es noch eine ganze Menge an Verbesserungsnotwendigkeiten, etwa die Verbesserung der Versorgung von chronisch Kranken, den Ausbau der Psychotherapie auf Kassenkosten, einen grundsätzlichen Ausbau der Sachleistungsversorgung sowie die Stärkung von Gesundheitsförderung und Gesundheitskompetenz der Menschen.
Dann wären da noch die Gesundheitsberufe...
Auch der Ausbau der Zusammenarbeitsmöglichkeiten bei den Gesundheitsberufen muss in Österreich weiterverfolgt werden. So kann vor allem bei den Hausärzten und in der Primärversorgung die Qualität der Versorgung einen Quantensprung machen. Ergänzend müssen wir aber auf den weiteren Ausbau der Pflege achten. Das geht aber nur mit guten Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte. Wenn von 100 ausgebildeten Pflegekräften bereits 30 nach fünf Jahren den Beruf wieder an den Nagel hängen, spricht das nicht für die Arbeitsplatzqualität.
Könnte die Krise auch an der Sozialversicherungsreform und ihrer Finanzierung rütteln?
Die Entwicklungen der letzten Jahre und auch die Veränderungen in unserer Gesellschaft hin zu stärkerer Automatisierung und Digitalisierung machen eine breitere Finanzierung der Sozialversicherung immer notwendiger.
Die aktuelle Lage verschärft aus meiner Sicht den Leidensdruck. Aktuell fehlen der ÖGK aufgrund vieler Arbeitsloser und großer Beitragsrückstände der Unternehmen monatlich zirka 170 Millionen Euro. Eine langfristige Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Leistungen kann nur durch eine nachhaltige finanzielle Absicherung auch mit anderen nicht auf Arbeitsleistung basierenden Grundlagen gewährleistet werden.
Derzeit finanzieren ausschließlich die Einkommen aus Arbeit die niedergelassene Versorgung und zu rund 45 Prozent die stationäre Versorgung. Ich denke, in Zukunft ist es notwendig, dass auch Einkommen aus Kapital, Vermögen und Erbschaften stärker zur Finanzierung dieser zentralen Aufgabe herangezogen werden.