Die Zukunft der Sozialversicherung: Arbeitnehmer:innen wieder am Steuer
Claudia Neumayer-Stickler, neue Vorsitzende der Konferenz der Sozialversicherungsträger und stellvertretende Obfrau der AUVA, spricht über ihre Doppelrolle, Reformen im Gesundheitssystem und die Bedeutung der Selbstverwaltung für Arbeitnehmer:innen.
Die Sozialversicherung steht vor großen Herausforderungen: Defizite in der Finanzierung, höhere Versicherungsbeiträge, viele unterschiedliche Player. Ein oegb.at-Gespräch mit ÖGB-Gesundheitsexpertin Claudia Neumayer-Stickler, die seit kurzem neue Vorsitzende der Konferenz der Sozialversicherungsträger und Obmann-Stellvertreterin der AUVA geworden ist.
Es heißt oft, dass die Sozialversicherung vor Herausforderungen steht. Was heißt das?
Eine der großen Herausforderungen ist die Frage der nachhaltigen Finanzierung: Was sollte unser öffentliches Gesundheitssystem bieten können, und was wird derzeit in den privaten Bereich gedrängt? Ein weiteres wichtiges Thema ist der Versicherungsschutz in der modernen Arbeitswelt in der Unfallversicherung. Viele Belastungen und Risiken sind bisher nicht ausreichend berücksichtigt und das stellt Betroffene vor viele Hürden.
Gibt es dafür ein konkretes Beispiel?
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Berufskrankheitenliste. Diese wurde zuletzt "modernisiert", doch die Änderungen waren nicht ausreichend, um alle zu schützen. Häufige Erkrankungen – wie etwa der Bandscheiben durch langjähriges schweres Heben und Tragen oder arbeitsbedingte psychische Erkrankungen - werden nach wie vor nicht anerkannt. Dabei würde das nicht nur den Betroffenen helfen, sondern auch gezielte Präventionsmaßnahmen ermöglichen und somit Erkrankungen in Zukunft verhindern.
Sozialversicherung bedeutet auch Selbstverwaltung. Könntest Du kurz erklären, was das bedeutet?
Die Sozialversicherung ist als Solidargemeinschaft organisiert. Das bedeutet, dass die Versicherten sich selbst absichern. Das Besondere an der Selbstverwaltung ist, dass gewählte Vertreter:innen innerhalb eines gesetzlichen Rahmens über die Verwendung ihrer Beiträge selbst entscheiden.
Nur wenn wir gemeinsam auf eine gerechte und zukunftssichere Sozialversicherung achten, können alle Versicherten von einer optimalen Versorgung profitieren.
2019 wurde dieses System durch die Reform der damaligen Türkis-Blauen Regierung verändert. Welche Auswirkungen hatte das?
Vor der Reform hatten die Arbeitnehmer:innen die Mehrheit in den Gremien ihrer Sozialversicherung. Seit der Änderung hat sich eine Parität, also 50 Prozent Arbeitnehmer:innen- und 50 Prozent Arbeitgeber-Vertreter, gebildet. Das Problem dabei: Die Arbeitgeberseite hat jetzt ein Vetorecht. Und das, obwohl Unternehmer:innen nicht in der Kranken- und Pensionsversicherung der Arbeitnehmer:innen versichert sind. Trotzdem können Arbeitgeber-Vertreter jetzt über die Verwendung der Beiträge mitbestimmen. Das erschwert Verbesserungen für die Versicherten erheblich.
Gibt es bereits Beispiele, bei denen die Parität zu Verschlechterungen geführt hat?
Ja, es gab mehrere Fälle, in denen von Arbeitnehmer:innenseite geforderte Verbesserungen nicht umgesetzt wurden oder stark verzögert wurden. Zudem hat die Reform finanzielle Nachteile mit sich gebracht. Das aktuelle Defizit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) ist ein Beispiel dafür. Es zeigt, dass die Zwangsfusion nicht nur systemische Schwächungen verursacht hat, sondern auch negative Auswirkungen auf die Finanzierung der Sozialversicherung hat. Wir erinnern uns alle an das leere Versprechen der “Patientenmilliarde”, aus der nun ein Milliardengrab wurde. (LINK)
Welche langfristigen Konsequenzen hat diese Entwicklung?
Wenn Arbeitnehmer:innen nicht mehr über ihre eigenen Beiträge bestimmen können, droht eine Schwächung des Systems. Das kann sich langfristig auf die Gesundheitsversorgung auswirken: Längere Wartezeiten, weniger Personal und eine verstärkte Abhängigkeit von privaten Versicherungen sind Entwicklungen, die schon spürbar werden - hier muss dringend gegengesteuert werden.
Welche konkreten Forderungen stellt der ÖGB in diesem Zusammenhang?
Eine zentrale Forderung ist, dass die Mehrheit in der Selbstverwaltung wieder an die Arbeitnehmer:innen zurückgeht. Die Parität, also das 50:50 zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer:in, hat sich als nachteilig erwiesen, da sie die Interessen der Versicherten schwächt. Des weiteren braucht es ein Maßnahmenbündel, um Privatmedizin zurückzudrängen und ausreichend und flächendeckend Versorgungsangebote zu schaffen.
Welche Botschaft möchtest du den Versicherten mitgeben?
Die Sozialversicherung muss als starke Solidargemeinschaft erhalten bleiben. Das bedeutet, dass wir uns für den notwendigen Ausbau von Leistungen einsetzen müssen – sei es in der Unfallversicherung, der Krankenversicherung oder der Pensionsversicherung. Nur wenn wir gemeinsam auf eine gerechte und zukunftssichere Sozialversicherung achten, können alle Versicherten von einer optimalen Versorgung profitieren.
Unsere Sozialversicherung ist eine Solidargemeinschaft. Alle Versicherten zahlen ein, damit im Krankheitsfall jede/jeder abgesichert ist.
Und damit alle die beste Gesundheitsversorgung bekommen, gibt es Gremien, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer-Vertreter:innen sitzen, die sich um genau das kümmern. Das ist zum Beispiel in der Gesundheitskasse und in der Pensionsversicherung so. Damit haben Arbeitnehmer:innen eine direkte Stimme in ihrer eigenen Gesundheitsversorgung.
Die gewählten Vertreter:innen entscheiden, welche Gesundheitsleistungen im Detail finanziert werden. Und das nennt sich Selbstverwaltung.
Diese Selbstverwaltung hat eine lange Tradition und ist eine Errungenschaft der Arbeiter:innenbewegung aus dem 19. Jahrhundert.
Doch 2019 wurde dieses System durch ein neues Gesetz der damaligen Türkis-Blauen-Regierung drastisch verändert. Seitdem müssen die Vertreter:innen der Arbeitnehmer:innen jede Entscheidung mit der Arbeitgeberseite abstimmen. Ohne Zustimmung der Arbeitgeber gibt es keinen Beschluss.
Das hat Folgen: Die gleichen Gesundheitsleistungen für alle und der Ausbau von Versorgungsangeboten sind nur schwer umsetzbar. Regionale Bedürfnisse können kaum berücksichtigt werden.
Darunter leidet die Qualität deiner Gesundheitsversorgung. Deiner Absicherung, wenn du zum Beispiel krank bist. Und auch deine Mitbestimmung.