EU
„Make Europe Great Again"?
Was die ungarische EU-Ratspräsidentschaft (nicht) bringen wird
Anfang Juli übergab Belgien die EU-Ratspräsidentschaft planmäßig an Ungarn. Auf ein erstes Halbjahr mit einer erfreulichen Bilanz für Arbeitnehmer:innen folgen sechs Monate mit Fragezeichen.
Ein kurzer Rückblick: Im Februar gab es nach langen Verhandlungen eine Einigung über die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit. Die EU-Arbeitsminister:innen einigten sich nach einer wochenlangen Blockade im Rat auf einen Kompromiss, der bessere Arbeitsbedingungen für mehr als 20 Millionen Plattform-Arbeiter:innen in der EU bedeutet. Der fehlende Anspruch auf bezahlte Freistellung bei Krankheit, Urlaubsanspruch und der Schutz bei Kündigung waren flächendeckende Probleme, denen mit dem neuen Gesetz ein Ende gesetzt werden kann. Gewerkschaften werden sich bei der nationalen Ausgestaltung des Gesetzes massiv einbringen.
Großer Gewerkschaftserfolg
Ein großer gewerkschaftlicher Erfolg ist das EU-Lieferkettengesetz. Nach der Grundsatzeinigung und monatelangem Widerstand der Wirtschaftslobby gelang im Mai endlich der Durchbruch: Unternehmen werden endlich zur Sorgfalt in Bezug auf Arbeitnehmer:innen- und Umweltrechte verpflichtet, von der Produktion bis zum Verkauf ihrer Waren.
Fortschritte gibt es nach einer Einigung des Rats im Juni auch für Eurobetriebsräte, die in Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und Niederlassungen in mehreren europäischen Ländern für die Rechte der Arbeitnehmer:innen sorgen: Sie sollen zukünftig verbesserte Informationsrechte habe, die fehlenden Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen der Konzerne bleiben auf der gewerkschaftlichen Agenda.
Highlights mit reduzierter Strahlkraft
Als Highlights mit reduzierter Strahkraft können die Sozialgipfel in Val Duchesse im Jänner und in La Hulpe im April gewertet werden. Beim Gipfel in La Hulpe hätte das EU-Sozialpartnerabkommen über eine Richtlinie zu Telearbeit und das Recht auf Nichterreichbarkeit unterzeichnet werden sollen. Die Verhandlungen scheiterten aber, da sich zwei der drei Arbeitgeberverbände dazu entschieden, nach einjährigen Verhandlungen vom Verhandlungstisch aufzustehen. Jetzt wird die Kommission selbst einen Richtlinienvorschlag vorlegen.
Am Sozialgipfel in La Hulpe wurde die zukünftige EU-Sozialagenda diskutiert und beschlossen, als Basis für wichtige EU-Gesetzgebung wie die EU-Mindestlohnrichtlinie und die Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft. Kein Ruhmesblatt für Österreich: Die Erklärung wurde unterstützt von allen Mitgliedsstaaten außer Schweden und Österreich, das dem Bekenntnis für ein soziales Europa auch beim Beschäftigungsrat im Juni die Unterstützung verweigerte.
Katzian warnt vor Deregulierungswahn
ÖGB- und EGB-Präsident Wolfgang Katzian, der an beiden Gipfeln teilnahm und die Deklaration in La Hulpe vor Ort tagelang mitverhandelte, kritisierte die Ablehnung auch öffentlich: „Ich habe meine Enttäuschung im Rahmen der Konferenz geäußert.“ Ein soziales Europa, das nicht nur in Zeiten des Wahlkampfs gerne propagiert wird, lasse sich nur realisieren, wenn die in der La Hulpe-Deklaration formulierten Ziele vorangetrieben werden. „Ist es der Bundesregierung und dem Bundeskanzler ernst damit, muss die verweigerte Unterzeichnung der Sozialerklärung wiedergutgemacht werden: Faire Entlohnung, starke Gewerkschaftsrechte und angemessene Pensionen müssen auch in der EU-Wettbewerbsstrategie klar zum Ausdruck kommen. Europa darf keinesfalls in einen Deregulierungswahn verfallen“, fordert Katzian.
Rechtskonservatives ungarisches Programm
Ein Blick in die Zukunft verspricht nichts Gutes: Die politischen Schwerpunkte der ungarischen Ratspräsidentschaft in der nunmehr begonnenen zweiten Jahreshälfte bauen auf dem laufenden Präsidentschaftsprogramm auf. Die Präsidentschaft fällt in die Konstituierungsphase des neuen Europäischen Parlaments, eine Einflussnahme auf institutionelle Kernbereiche ist daher nur begrenzt möglich. Das Programm mit dem provokanten Motto „Make Europe Great Again“ zeigt eine rechtskonservative Grundfarbe, konkretisierte Extrempositionen sind nicht formuliert.
Der ungarische Vorsitz könnte die Phase aber verstärkt zum diskursiven Agenda Setting nutzen. Die gemeinsame Pressekonferenz von Ministerpräsident Viktor Orbàn mit FPÖ-Chef Herbert Kickl und dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babiš am Tag vor dem offiziellen Wechsel, in der es um die Etablierung einer weiteren Rechtsaußen-Fraktion ging, kann als erster Hinweis darauf gedeutet werden. Expert:innen erwarten eine Doppelstrategie – die Vermeidung großer Skandale bei maximaler Nutzung der Konstellation zu Gunsten einer weiteren Verschiebung der gesellschaftlichen Ordnung nach rechts.
Sozialpolitik und Green Deal könnten in den Hintergrund geraten
Inhaltliche Schwerpunkte sollen die Steigerung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU und die Bekämpfung der (illegalen) Migration durch verstärkte Kooperation vor allem mit afrikanischen Drittstaaten sein. Ungarn fällt mit seiner unsolidarischen Position zu Migrationspolitik bereits seit längerem auf. Fragen der Sozialpolitik und des European Green Deals werden im Vergleich zu vorherigen Präsidentschaften in den Hintergrund treten, sind sich Kommentator:innen einig.
Auch mit einer lauten Stimme Ungarns, um die Situation und die Rechte von Arbeitnehmer:innen zu verbessern, rechnen Insider:innen nicht. Die Gewerkschaften Europas werden die Entwicklungen im zweiten Halbjahr jedenfalls aufmerksam verfolgen und sich einbringen, wo es nötig ist.