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Julia Stern

Flucht und Migration

„Das Recht, nicht gehen zu müssen“

Eine neue Studie über Fluchtursachen veranschaulicht die Komplexität, die es für langfristige Lösungen braucht.

Die Ursachen für Flucht werden meist ausschließlich dort gesucht, wo das eigentliche Drama seinen Anfang nimmt. Doch die tatsächlichen Fluchtursachen liegen tiefer, in einem ungerechten globalen System, das Armut, Hunger, Klimaerhitzung und Kriege erzeugt.

Die neue Studie "Das Recht, nicht gehen zu müssen" über Fluchtursachen veranschaulicht die Komplexität, die es für langfristige Lösungen braucht. Die Autorinnen Sonja Buckel und Judith Kopp orten eine wichtige Rolle der Gewerkschaften im dafür notwendigen Transformationsprozess. oegb.at hat sie zum Interview gebeten.

oegb.at: Was war Ihre Motivation für diese Studie? 

Kopp: Wir arbeiten beide seit Jahren zu den Themen europäische Migrationspolitik und Grenzregime. Dabei liegt unser Fokus auf den Kämpfen um diese Politiken insbesondere in der rechtlichen und politischen Arena sowie auf den oft tödlichen Folgen von Migrationskontrolle. In Diskussionen mit der Arbeiterkammer Wien und weiteren KollegInnen aus dem gewerkschaftlichen und entwicklungspolitischen Feld stellte sich die zentrale Frage, wie die Themen Flucht und Migration aus ihrer Engführung auf repressive Sicherheit und rassistische Positionen gelöst werden können. Die Forderung nach einer „Bekämpfung von Fluchtursachen“, die seit 2015 in aller Munde ist, bot uns einen wichtigen Anknüpfungspunkt: Wenn wir in Europa von Fluchtursachen sprechen, gilt es hier anzusetzen und Migrationspolitiken als Moment der globalen Gerechtigkeitsfrage zu begreifen. 

Die Studie und die Zusammenarbeit mit gewerkschaftlichen AkteurInnen bzw. ArbeitnehmerInnen-Vertretungen stellt eine spannende, vielversprechende Gelegenheit dar. Heute dürfen wir auf einen Diskussionsprozess zurückblicken, den wir als große Bereicherung erfahren haben. 

oegb.at: Können Sie die zentralen Ergebnisse skizzieren?  

Kopp: Die Studie teilt sich grob in zwei Analyseschritte: Im ersten Teil nehmen wir den Diskurs um Fluchtursachen zum Ausgangspunkt. Wir zeigen auf, wie die vorherrschende Deutung von Fluchtursachen diese ausschließlich in den Herkunftsländern von Geflüchteten verortet und politische Maßnahmen entsprechend nur an den Verhältnissen „vor Ort“ ansetzen. Damit werden historische und strukturelle Ungleichheitsverhältnisse zwischen globalem Norden und Süden ausgeblendet.  

Im zweiten Teil drehen wir die Perspektive um. Wenn sich Menschen im globalen Süden zur Flucht entscheiden, lässt sich dies nur im Kontext globaler Ungleichheitsverhältnisse verstehen.  

Broschüre: „Das Recht, nicht gehen zu müssen – Europäische Politik und Fluchtursachen“
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Buckel: Um die benannten Zusammenhänge an konkreten Politikfeldern zu skizzieren, untersuchen wir zwei Ursachenkomplexe: die europäische Handelspolitik und die Klimakatastrophe. 

Beispielsweise lassen sich die Klimakatastrophe und die Flucht vor ökologischen Verheerungen nur vor dem Hintergrund globaler Ungleichheit und globaler Klassenverhältnisse verstehen. Einerseits treffen die Folgen der Klimaerhitzung in erster Linie Menschen im globalen Süden, obwohl sie dort nicht primär verursacht werden. 

Andererseits leben nicht alle Menschen in Europa gleichermaßen auf Kosten des globalen Südens. Denn auch in Europa bestehen Klassenverhältnisse fort.  

Darüber hinaus zeigt die Studie, dass es sich bei Flucht um eine Strategie des Entkommens aus gewaltsamen Lebenssituationen handelt, der ein komplexes Ursachenbündel zugrunde liegt. Dieses Zusammenwirken verschiedener historischer, struktureller und akuter Fluchtursachen zeichnen wir anhand der regionalen Beispiele Nigeria und Syrien plastisch nach. 

Am Ende geben wir einen Ausblick, wie Fluchtursachenbekämpfung so gewendet werden kann, dass sie an den globalen Verhältnissen ansetzt. Schlussendlich muss es darum gehen, das „Recht, nicht gehen zu müssen“, für alle zu realisieren.  

Universitätsprofessorin, Studienautorin "Das Recht, nicht gehen zu müssen"
Sonja Buckel ist Professorin für politische Theorie an der Universität Kassel. Sonja Buckel
Studienautorin "Das Recht, nicht gehen zu müssen"
Judith Kopp ist Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung mit dem Forschungsschwerpunkt „Fluchtursachenbekämpfung“. Judith Knopp

oegb.at: Macht diese Komplexität der Fluchtursachen nicht auch die Bewältigung umso schwieriger?  

Buckel: Ja, das stimmt natürlich. Aber wenn die Verhältnisse komplex sind, muss dies auch der Lösungsweg sein. Die kapitalistische Arbeitsteilung ist global geworden, transnationale Unternehmensnetzwerke spannen sich weltweit auf. Und ökonomische und soziale Folgekosten treten an Orten auf, wo sie gar nicht verursacht wurden. Dadurch hängen weit voneinander entfernte Gesellschaften voneinander ab. Denken Sie etwa an die industrielle Lebensmittelproduktion, von der die Menschen in Europa inzwischen abhängen. Diese richtet hochsubventioniert und exportorientiert an anderen Orten der Welt wiederum immensen Schaden an. Die Arbeitsplätze in Europa, z.B. in Schlachthöfen, sind, wie wir spätestens seit Corona wissen, auch hier teilweise katastrophal. Diese Industrie erzeugt auf Kosten von Umwelt, Tieren und Arbeitskräften Waren in enormen Mengen zu äußerst niedrigen Preisen. Dafür sorgt auch die EU-Handelspolitik. 

Dagegen sind insbesondere KleinbäuerInnen in z.B. Nigeria, zum großen Teil Frauen, nicht konkurrenzfähig. Auf diese Weise werden diese Gesellschaften abhängig von Importen, unter anderem aus Europa. Dadurch kommt es immer häufiger zu Ernährungskrisen. Auf diese Weise werden weltweit immer mehr Nahrungsmittel hergestellt, zugleich aber liegt die Anzahl schwer hungernder Menschen bei insgesamt 690 Millionen. 

oegb.at: Welche konkrete Unterstützung wäre also gefragt? 

Kopp: Konkrete Maßnahmen müssen in eine globale Strategie für die sozial-ökologische Transformation eingebettet sein. Denn erst eine solche tiefgreifende Veränderung kann die eklatante globale Ungleichheit beenden – und damit auch dem Recht, nicht gehen zu müssen, zur Umsetzung verhelfen. Wir stehen vor immensen Herausforderungen, die allerdings unumgänglich sind. Es existiert eine Vielzahl an Konzepten beispielsweise für eine andere Ernährungsweise, die wiederum mit einer anderen Agrarpolitik einhergeht, für eine nachhaltige Verkehrs- und Wohnpolitik und Konzepte demokratischer Partizipation. Diese ineinandergreifenden Prozesse zu koordinieren, ist die große Herausforderung, in der transnationale Allianzen progressiver AkteurInnen gefragt sind. Konkrete Ansatzpunkte werden in der Studie vorgestellt. 

In Österreich und anderen europäischen Ländern wird für Lieferkettengesetze gestritten, um Unternehmen dazu zu verpflichten, Menschenrechte und Umweltstandards in ihren globalen Lieferketten einzuhalten. Auch Orte einer alternativen und kritischen Wissensproduktion und Vermittlung sind unerlässlich, um emanzipatorische Perspektiven auf Fluchtursachen zu entwickeln. Ein gewerkschaftliches Institut für sozial-ökologische Transformation könnte hier ein wichtiger institutioneller Stützpfeiler sein. Wenn in diesen Bereichen grundlegende Reformen erstritten werden, lassen sich auch tatsächlich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verschieben. Erst auf dieser Grundlage kann eine tiefgreifende Transformation zu einer solidarischen Lebensweise erfolgen.   

oegb.at: Was können Gewerkschaften beitragen?  

Kopp: Gewerkschaften müssen sich mit anderen sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen zusammentun, um solidarische Entwürfe zu stärken. Wir haben daher auch beim Entstehen der Studie mit Gewerkschaften und entwicklungspolitischen Organisationen zusammengearbeitet, die die Initiativwoche zur Studie, wie man sieht, ja jetzt auch gemeinsam organisieren. Gesellschaftlich sind viele Initiativen wie die Willkommensbewegung, die „Fridays und Workers for Future“, die private Seenotrettung, die solidarischen Städte und zahlreiche migrantische Selbstorganisationen bereit für grundlegende, solidarische Veränderungen. Es gibt zur gleichen Zeit auch Gegenbewegungen, die auf Wohlstandschauvinismus, Rassismus und auf Ent-Solidarisierung setzen.  

Gewerkschaften haben das Potenzial, die Debatte um Fluchtursachen in Richtung einer sozial-ökologischen Transformation zu verschieben und damit auch die Forderungen selbstorganisierter MigrantInnen und Geflüchteter zu stärken. Es existieren bereits zahlreiche Praktiken im gewerkschaftlichen Feld, an die angeknüpft werden kann. Notwendig scheint uns ein Ausbau gewerkschaftlicher Organisierung entlang von Wertschöpfungsketten. Diese solidarischen Praktiken zwischen ArbeitnehmerInnen im globalen Norden und globalen Süden setzen Standortkonkurrenzen, Lohn-Dumping und anderen Unternehmensstrategien wirksam etwas entgegen.  

Buckel: Gewerkschaften unterstützen als politische AkteurInnen gleichzeitig wichtige gesellschaftliche Initiativen, die mehr globale Gerechtigkeit einfordern. Beispiele hierfür sind die erwähnten Kampagnen für Lieferkettengesetze oder Initiativen für einen sozial gestalteten ökologischen Umbau klimaschädlicher Industriezweige, wie der Automobilindustrie. Über Informations- und Bildungsmaterialien können Gewerkschaften Angebote an ihre Mitglieder, Betriebsräte und Institutionen politischer Bildungsarbeit machen. Damit können Auseinandersetzungen in den Belegschaften von Betrieben und interessierten gesellschaftlichen Gruppen angestoßen werden.  

Sonja Buckel ist Professorin für politische Theorie an der Universität Kassel.  Judith Kopp ist Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung mit dem Forschungsschwerpunkt „Fluchtursachenbekämpfung“. 

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Studie: „Das Recht, nicht gehen zu müssen – Europäische Politik und Fluchtursachen“

ÖGB, Gewerkschaften und NGOs unterstützen die von der AK gestartete Initiative „Das Recht, nicht gehen zu müssen – Europäische Politik und Fluchtursachen“  

Veranstaltungen zwischen 7. und 11. Juni

Eine Veranstaltungswoche widmet sich dem Schwerpunkt "Fluchtursachen":

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