Zum Hauptinhalt wechseln
„Bei sexueller Belästigung handelt es sich nie um zwei Personen, die gleichgestellt sind", betont Sara Hassan, #metoo-Expertin und Autorin, im Gespräch mit der Solidarität. ÖGB/Berndl

Interview

„Täter sind unter uns – und zwar überall“

Ob im Fall der spanischen Fußballweltmeisterin Jennifer Hermoso, die gegen ihren Willen vom Verbandschef geküsst wurde, in der Musikbranche – etwa im Fall Rammstein - oder im Alltags- und Arbeitsleben in Österreich: Machtmissbrauch gibt es überall. Wie Machtstrukturen funktionieren und welche Regeln und Konsequenzen es bei sexueller Belästigung braucht, erklärt Autorin und #metoo-Expertin Sara Hassan.

Es gibt wenige Frauen, die nicht zumindest einmal - und in den meisten Fällen mehrfach - sexuelle Belästigung erlebt haben: beim Sport, in der Arbeit, in der Schule oder in der Freizeit. Teilen Sie diese Beobachtung?

Ja, diese Beobachtung teile ich. Sexuelle Belästigung ist allgegenwärtig. Oft wird Belästigung als ein Phänomen erlebt, das nur passiert, wenn Frauen oder queere Personen allein in der Nacht unterwegs sind. Der wesentliche Punkt ist aber, es passiert immer und überall – durch Menschen, die wir kennen, mit denen wir den Alltag teilen. Außerdem handelt es sich nicht um einmalige Momente. Bei Belästigung geht es darum, dass Grenzen kontinuierlich verschoben werden.

Warum geschieht das so häufig?

Bei sexueller Belästigung handelt es sich nie um zwei Personen, die gleichgestellt sind. Auf der einen Seite sind Menschen in Machtpositionen. Sie können andere an den Rand drängen, sexualisierte Bemerkungen machen, sie beschämen, mobben und ausbeuten. Das machen Täter in Kontexten, in denen es sehr schwierig ist, sich zu wehren. Täter haben Ressourcen, das kann sozial oder wirtschaftlich sein. Sie haben Geld, sie haben Ansehen, sie haben Einfluss. Und auf der anderen Seite sind Betroffene, die relativ wenig davon haben, also zum Beispiel wenig Glaubwürdigkeit, wenig ökonomische Sicherheit, wenig Netzwerk oder Seilschaften, wenig Lobby. Als Betroffene kann ich mich oftmals nicht einfach aus dieser Situation herausziehen, ohne irgendwelche negativen Konsequenzen befürchten zu müssen. Zum Beispiel, dass ich meinen Job verliere, dass ich ein soziales Netzwerk verliere und mehr. Das macht es entschieden schwieriger, mich zur Wehr zu setzen. Für Betroffene kann mitunter alles auf dem Spiel stehen.

Bleib informiert über deine Arbeitswelt!
Jeden Freitag: Das Wichtigste aus einer Woche


Oft hat man den Eindruck, dass viele Männer Belästigung nicht erkennen oder erkennen wollen. Sie beteuern, dass sie selbst niemals eine Frau belästigen würden. Doch gleichzeitig gibt es so viele Betroffene. Woher kommt der blinde Fleck?

In den gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, haben vor allem Männer Macht. Und darum können hauptsächlich Männer ihre Macht auch strukturell missbrauchen. Ich denke auch, dass es deswegen einen hohen Normalisierungsgrad solchen Verhaltens gibt. Männer nehmen das nicht als problematisch wahr, denn man(n) kennt die Leute und mag die Leute. Männer selbst haben mit diesen Personen, die ihre Macht missbrauchen, oft kein Problem, denn wenn machtvolle Personen mit anderen machtvollen Personen aufeinandertreffen, dann gibt es die Ausbeutungsdynamik nicht, dann gibt es die Abhängigkeitssituation nicht. Das heißt, viele Männer erleben den anderen Mann als netten Kollegen, als guten Freund, als super Haberer. Das, was passiert, wenn dieser super Haberer aber auf eine Person trifft, die von ihm abhängig ist, wird dann weniger gesehen und weniger als Problem betrachtet.

Sexuelle Belästigung passiert immer und überall.

Sara Hassan, Autorin und #metoo-Expertin

So viele Betroffene es gibt, so viele Täter gibt es auch? Bedeutet das in Wahrheit, wir alle kennen Täter?

Die Wahrheit ist, dass Täter unter uns sind, und zwar überall. Die Erkenntnis würde von vielen Menschen erfordern, dass sie zu ihren Freund:innen oder Bekannten sagen: "Wie kann das sein, was machst du da?" Das machen sie aber nicht. Und damit tragen sie implizit dazu bei, dass sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch einfach immer so weitergehen. Macht ist in unserer Gesellschaft ungleich verteilt.

Wir haben in den vergangenen Monaten von Übergriffen an Beschäftigten in der Clubszene erfahren, ebenso in der Theater- und Filmszene, im Spitalsbereich und auch in der Pflege. Und der Fall Rammstein beschäftigt die ganze Welt. Wie ist das zu beurteilen?

Ich glaube, es gibt zwei Ebenen. Es ist auf jeden Fall ein Fortschritt, dass diese Fälle rauskommen. Im Großen, wie bei Rammstein, aber auch im kleineren. Wenn wir weniger prestigeträchtige Bereiche betrachten und nicht nur auf extreme Momente schauen, sehen wir nämlich, dass auf allen Ebenen in unserer Gesellschaft und insbesondere dort, wo eben niemand hinschaut, Belästigungssysteme gleich funktionieren. Und das ist wichtig.

Sie beschreiben diese Muster und Systeme in Ihrem Buch "Grauzonen gibt es nicht".

Wer Macht hat, hat Ressourcen. Das können Einzelpersonen oder Organisationen sein, die dann schalten und walten können, wie sie wollen. Man kann sich auch anschauen, wie sich Täter verhalten. Auch das entspricht einem Muster. Auch im Falle Rammstein haben wir etwas Spannendes gesehen: Es existiert ein gesamtes Rekrutierungssystem. Da gibt es mindestens ein Dutzend Leute, wenn nicht mehr, die nicht nur aktiv davon wussten, sondern aktiv dazu beigetragen haben. Das ist tatsächlich eine Kollaboration, so muss man sich das vorstellen. Das sind alles einzelne Handgriffe, Schritte und Hebel, an denen man sieht, dass es sich um eine Maschinerie handelt. Und ich denke, das ist das Schockierende an der Geschichte, wie viele Menschen aktiv zu Missbrauch und Belästigung beitragen.

„Grauzonen gibt es nicht“

Was ist eigentlich sexuelle Belästigung? Und wie kann man
dagegen vorgehen? In ihrem Buch „Grauzonen gibt es nicht“
beschreibt Sara Hassan anhand eines Systems der roten Fahnen,
wie sexuelle Belästigung funktioniert, wie man erste Warnsignale
erkennt und was man dagegen tun kann. Das Buch ist im ÖGBVerlag
erschienen. 

„Grauzonen gibt es nicht“ im ÖGB-Buchshop

Von ähnlichen Systemen haben in Österreich auch Beschäftigte in der Film- oder Theaterbranche gesprochen: dass viele Menschen mitgeholfen haben – oder von Übergriffen wussten - und weggeschaut haben.

Ja, so war es im Fall Lindemann bzw. Rammstein - aber das gleiche System kann überall existieren: im Theater, an der Uni, im Spital, im Unternehmen. Überall dort, wo es eine mächtige Person gibt, die mächtige Seilschaften um sich hat. Das verschafft Glaubwürdigkeit und die Sicherheit, dass all diese Leute sie stützen werden. Damit kann diese Person tun und lassen, was sie will.

Ein Fall, der gerade in den Medien ist, ist der der spanischen Fußballspielerin Jennifer Hermoso. Sie wurde vom spanischen Fußballverbandschef Luis Rubiales gegen ihren Willen auf den Mund geküsst. Daraus entstand eine heftige Debatte.

An diesem Moment ist wichtig, dass die Betroffene klar gesagt hat, dass der Kuss gegen ihren Willen war. Was eine Grenzüberschreitung ist und was unerwünschtes Verhalten ausmacht, ist immer eine subjektive Sache – so sieht das auch das Gleichbehandlungsrecht in Österreich zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Und es ist auch unerheblich, ob Täter das nun so gemeint haben oder nicht. Oft heißt es „Sie hat das missverstanden“ oder auch „Das war nur ein Spaß“. So versuchen Täter, sich aus der Verantwortung zu ziehen, und glauben oft, das wäre ein triftiges Argument. Das Gleichbehandlungsrecht zeigt hier aber vor, wie es geht, dort ist nämlich festgeschrieben, dass sexuelle Belästigung „verschuldensunabhängig“ ist, also die Absicht von Tätern irrelevant ist.  Es geht darum, was der Effekt ist. Wie empfinden das Betroffene? Was für eine Atmosphäre wird geschaffen? Was wird in Wahrheit bezweckt? Und: Liegt Entwürdigunge vor? Und ja, mit diesem unerwünschten Kuss ist der Fußballerin etwas genommen worden. Es war ein Angriff auf ihre Würde und auf ihre Integrität.

Sie schreiben in Ihrem Buch: Betroffene haben nicht die Wahl, aus diesem System einfach auszusteigen und nein zu sagen, ohne dass sie schwerwiegende Konsequenzen befürchten müssen. Aber mit diesem Argument wird die Glaubwürdigkeit von Opfern gerne untergraben: „Warum hat sie nicht einfach Nein gesagt? Warum ist sie nicht gegangen?“

Ja. Das ist perfide. Noch mal zurück zum Gleichbehandlungsgesetz. Auch hier muss man nicht „Nein“ gesagt haben. Man muss nicht einmal in irgendeiner Form ausgedrückt haben, dass es unerwünscht ist. Das Gleichbehandlungsrecht sieht, dass das eine zusätzliche Bürde wäre, die Betroffene schultern müssten. Das wäre eine absolute Zumutung und vor allem gibt es eben oft nicht die Möglichkeit, das zu tun, weil es finanzielle Konsequenzen oder den Jobverlust mit sich ziehen könnte. Denn im öffentlichen Diskurs sprechen wir immer davon, warum Betroffene nicht gegangen sind. Mehr noch: Es ist deine Schuld als Betroffene, wenn du dich nicht aus der Situation entzogen hast, aus der du dich in Wahrheit nicht entziehen konntest. Das ist Täter-Opfer-Umkehr. Der Täter verschwindet in dieser Art von Diskurs in den Hintergrund und plötzlich ist das einzige, worüber diskutiert wird, was Betroffene getan oder unterlassen haben. Das ist eine weitere Taktik, um Betroffene einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Was sollen sie in dieser Erwartungshaltung dann machen? Den Job kündigen? In diesem Diskurs hast du den Scherm auf, weil du nicht sofort was gesagt hast. Es ist eine lose-lose Situation.

Sie bieten zum Thema Sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch auch Workshops für Firmen an. Was sind da die Themen und welche Firmen buchen Sie?

Ich habe 2019 angefangen Workshops an Universitäten zu halten. Ich habe mich viel mit Prävention auseinandergesetzt, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie größerer Schaden verhindert werden kann. Oftmals werden Organisationen erst dann aufmerksam, wenn es bereits Probleme gibt. Und dann geht es um den Imageschaden oder darum, schnell ein Policy Papier oder einen Wertekatalog oder ähnliches zusammenzustellen. Was ich spannend finde, ist, sich anzuschauen, wie man Machtmissbrauch verhindern kann und wie man Strukturen aufbauen kann, die Übergriffe gar nicht erst zulassen. Und in diesem Zusammenhang habe ich angefangen mit Universitäten und Medienhäusern zu arbeiten. Hier können Zeug:innen lernen, was die Konsequenzen sind, wenn sie schweigen, nichts tun oder Beihilfe oder Unterlassung leisten und was man stattdessen tun kann. Also wie man eine kritische Masse, ein Gegengewicht, bilden kann.

Trainings und Vorträge

Unternehmen und Organisationen können Sara Hassan für
#metoo-Trainings und Vorträge zum Thema Machtmissbrauch
und sexuelle Belästigung buchen.

Jetzt buchen

Welche Rolle spielen Führungskräfte bei der Schaffung eines Arbeitsumfelds, das möglichst sicher für alle ist?

Führungskräfte sind wichtig, um gewisse Grenzen, Regeln und Werte festzulegen und diese auch tatsächlich zu beleben. Wie das ausschaut, wenn Führungspersonen das nicht ideal machen, konnte man vor Kurzem an einer Universität in Deutschland sehen. An einem Institut hat sich eine Betroffene an eine Führungsperson gewandt. Dann hat diese Führungsperson mit dem Täter darüber gesprochen und ihm das Versprechen abgerungen, die Belästigung einzustellen. Das war’s. Da muss ich sagen: Schlimmer geht's eigentlich nicht. Denn hier wird die Situation so heruntergespielt, als wäre das eine rein persönliche Geschichte und keine, die Auswirkungen auf das gesamte Institut, auf das gesamte System, auf alle Studierenden und alle Professor:innen hat. Als wäre das ein Problem zwischen zwei Parteien, die sich nicht verstehen.  Doch die Wahrheit ist: Eine Person hat systematisch Jahre oder Jahrzehnte lang ihre Macht missbraucht, hatte Zugang zu vulnerablen Personengruppen - hier Studierende im ersten Semester - und konnte tun und lassen, was sie wollte.

Wie wäre es besser gegangen?

Wenn ein Vorfall an eine Führungsperson herangetragen wird, dann muss es klare Konsequenzen geben. Diese Konsequenzen für grenzüberschreitendes Verhalten und klare Regeln für den Umgang miteinander müssen an das ganze Unternehmen kommuniziert werden. Idealerweise gibt es eine externe Stelle, die solche Fälle begutachtet und an die man sich dann auch wenden kann. Wenn Organisationen aber machtmissbräuchliche Fälle intern prüfen und dann einfach zum Schluss kommen, bis auf eine Kleinigkeit alles richtig gemacht zu haben, bleibt das größere Problem natürlich bestehen.

Was mache ich als betroffene Person, wenn ich gar nicht weiß, ob es in meinem Betrieb Meldeprozesse und Anlaufstellen gibt?

Ja, das ist leider oft der Fall. Darum ist es wichtig, zu wissen, dass sexuelle Belästigung nicht nur die Verantwortung der Täter ist. Arbeitgeber haben eine Verantwortung ihren Mitarbeiter:innen gegenüber. Sie haben die Pflicht, gegen Belästigung effektiv vorzugehen. Das ist der Kern meiner Arbeit. Ich möchte im beruflichen Umfeld den Blick dafür schärfen. Denn wenn Vorgesetzte ein Auge dafür haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie etwas übersehen oder missinterpretieren oder glauben, dass das alles eh nur ein Schmäh war oder nicht so schlimm.

Macht es einen Unterschied, wie divers und heterogen Teams sind?

Jein. Es macht einen Unterschied, wie Führungsebenen besetzt sind. Wenn alle meine Praktikant:innen divers sind und die Führungsebene ist aber zum Beispiel homogen männlich, dann macht es natürlich keinen großen Unterschied, sondern repliziert genau die Machtstrukturen, die ohnehin schon da sind. Ebenso, wenn es zum Beispiel nur eine einzige Frau in einer Führungsposition gibt. Hier kann man sogar vermehrt davon ausgehen, dass auch diese Frau belästigt wird, auch wenn sie in einer relativen Machtposition ist. Auch das ist ein wichtiger Aspekt, über den zu wenig gesprochen wird: Belästigung wird auch als Instrument eingesetzt, um gewisse Personengruppen – Frauen, queere Menschen, People of Color –, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen und in ehemalige Männerdomänen vordringen, von Ressourcen fernzuhalten. Sie sollen eingeschüchtert werden von Menschen, die meinen, sie hätten ein Anrecht auf diese Jobs und Machtpositionen.  

Belästigung wird bewusst eingesetzt, um Konkurrenz fernzuhalten?

Ja. Und die Konsequenz ist oftmals, dass am Ende Betroffene den Arbeitsplatz verlassen, weil sie es nicht mehr ertragen. Unter diesem Blickwinkel sieht man deutlich: Es geht nicht einfach nur um eine einzelne Handlung oder um einen Kerl, der sich einmal einen unpassenden Witz erlaubt hat. Nein, hier geht es darum, strukturell Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten und zu verhindern, dass andere Menschen an Ressourcen kommen. Ich denke, wenn man effektiv etwas gegen Machtmissbrauch machen will, dann muss man echt und ehrlich umverteilen. Dann reicht es eben nicht, dass man sich ein, zwei Leute in die Führungsebene holt, um den Anschein zu erwecken, man hätte etwas verändert.