Sexuelle Belästigung
Grauzonen gibt es nicht
Wo sexuelle Belästigung anfängt und was wir dagegen tun können, erklärt Autorin Sara Hassan im Interview mit oegb.at
Sexuelle Belästigung ist weiter verbreitet, als viele glaub(t)en. Das hat uns die #metoo-Bewegung eindrucksvoll gezeigt. Dabei ist sexuelle Belästigung nicht auf den privaten Bereich beschränkt, sondern auch in der Arbeitswelt keine Ausnahmeerscheinung. Das Buch „Grauzonen gibt es nicht“ zeigt Betroffenen und BeobachterInnen, wie sie Missbrauch erkennen und dagegen vorgehen können. Wir haben die Autorin Sara Hassan zum Interview getroffen.
oegb.at: Gemeinsam mit Juliette Sanchez-Lambert hast du 2019 das Buch „It's not that grey“ veröffentlicht. Nun ist es unter dem Titel „Grauzonen gibt es nicht“ auch auf Deutsch erschienen. Was hat dich dazu bewegt, ein Buch über sexuelle Belästigung zu schreiben?
Sara Hassan: „Ich habe vor fünf Jahren angefangen, im Europaparlament zu arbeiten. Und gleich zu Beginn, in den ersten paar Wochen, gab es schon mehrere Übergriffe meinen KollegInnen und mir gegenüber. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Deshalb haben wir beschlossen, etwas zu tun. Wir haben ein Netzwerk gegründet und angefangen, Workshops zu geben. Wir haben uns gegenseitig Strategien beigebracht und erprobt, wie wir uns zur Wehr setzen können. Im Zuge dessen haben wir gemerkt, dass die Belästigungen, die uns erzählt wurden, gewissen Regelmäßigkeiten, gewissen Mustern folgten. Wir haben dann angefangen, diese Muster aufzuschreiben und daraus hat sich dann ein Früherkennungssystem ergeben. Meiner Co-Autorin und mir ist also aufgefallen, dass uns nie jemand beigebracht hat, was Machtmissbrauch ist, welche Kennzeichen es gibt, wie TäterInnen operieren, welche Ähnlichkeiten es gibt, wann du hellhörig werden solltest und wann deine Alarmglocken schrillen sollten."
Es hört auf, harmlos zu sein, sobald Macht im Spiel ist.
Im Buch wird anhand des „Systems der roten Fahnen“ beschrieben, was im zwischenmenschlichen Umgang noch okay ist und wo Missbrauch beginnt. Wo kann man hier die Grenze ziehen?
„Es hört auf, harmlos zu sein, sobald Macht im Spiel ist. Das kann in der Arbeit sein, Macht kommt aber auch ins Spiel, wenn ich zum Beispiel einem Freund etwas schulde, oder wenn ich von einer Person abhängig bin. Es geht also um Situationen, in denen Hierarchien, Abhängigkeiten und Machtverhältnisse herrschen – dann gilt es, besonders vorsichtig zu sein. Die entscheidende Frage bei der Bewertung, ob etwas noch okay ist oder nicht, lautet: Kann ich mich einer Situation entziehen, ohne zu befürchten, dass das negative Konsequenzen für mich hat? Zum Beispiel, dass die Freundschaft endet, dass sich jemand bei mir rächt oder dass ich um meinen Job fürchten muss. Oder ist das eben nicht der Fall."
Im Berufsleben sind Hierarchien und Abhängigkeiten besonders ausgeprägt. Welche Muster gibt es in Bezug auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz?
„Unter den Betroffenen sind ganz häufig Personen, die neu an einem Arbeitsplatz kommen, die sich mit dem System noch nicht auskennen, nicht über ihre Rechte Bescheid wissen, keine guten Kontakte und wenig Unterstützung haben und die in der Hierarchie sehr weit unten stehen – PraktikantInnen zum Beispiel. Sie stehen oft unter hohem Druck, wollen alles richtig machen, damit auch ja später ein fixes Arbeitsverhältnis rausschaut. Es sind also Personen, die bereit sind, sehr viel auf sich zu nehmen. Unter solchen Bedingungen kann Machtmissbrauch sehr leicht greifen. Es kommt auch vor, dass eine Person eine Sonderstellung bekommt, anders behandelt wird als alle anderen – eine Technik, die Zwietracht säen soll, zwischen dieser Person und den anderen. Das macht es unwahrscheinlicher, dass sich KollegInnen solidarisch mit dieser Person zeigen, dass sie sie unterstützen. Es geht also nicht nur um ökonomische Zwänge, sondern auch darum, welche Leute eher am Rand angesiedelt werden. Wer wird oft ausgelacht, wem wird nicht zugehört, wessen Einwände werden immer übergangen? Darauf gilt es zu achten. Denn genau diese schwache Position einer Person wird häufig von TäterInnen ausgenutzt."
Es ist ein gesellschaftliches Problem. Es sollte auch eine gesellschaftliche Aufgabe sein, es zu beenden.
Was kann man tun, wenn man sexuell belästigt wird?
„Grundsätzlich ist es besser, den Blick darauf zu lenken, was andere Menschen tun können. Für Betroffene geht es darum, zu verstehen, dass ein sexueller Übergriff nicht in einem Vakuum passiert, sondern in den allermeisten Fällen vor den Augen anderer. Diese Außenstehenden entscheiden sich immer wieder dagegen, etwas zu tun. Darum haben wir in Wirklichkeit eine Anleitung geschrieben, wie sich ZeugInnen verhalten sollen. Als Rat für Betroffene kann dennoch gelten: Dokumentiere alles! Denn du weißt nicht, wie du später mit dieser psychischen Ausnahmesituation umgehen willst. Wenn du zum Beispiel Anzeige erstatten willst, ist es sehr gut, all diese Momente dokumentiert zu haben. Vor allem geht es für Betroffene aber darum, zu verstehen, dass das, was da vor sich geht, die Intention der TäterInnen ist und sie das weder provoziert noch dazu eingeladen haben. Wenn Betroffene erkennen, dass es überall auf der Welt unter gewissen Bedingungen gleich abläuft und – auch wenn es blöd kling – keine persönliche Angelegenheit ist, dann kann ihnen das einen gewissen Handlungsspielraum geben. Weil es plötzlich nicht mehr ganz so nah ist. Weil sie erkennen, dass hier gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen ausgenutzt werden. Darum geht’s. Und nachdem es ein gesellschaftliches Problem ist, sollte es auch eine gesellschaftliche Aufgabe sein, es zu beenden und Gerechtigkeit herzustellen."
Welche Tipps hast du für Menschen, die sexuelle Belästigung als Außenstehende erleben?
„Zunächst einmal würde ich immer dazu raten, mit den Betroffenen selbst ins Gespräch zu kommen, indem sie zum Beispiel zu Betroffenen hingehen und sagen: Was da gerade passiert ist, habe ich gesehen und ich finde es nicht in Ordnung. Vorauseilende Hilfestellung, ohne mit Betroffenen abgeklärt zu haben, ob sie das auch wollen, ist keine gute Idee. Deshalb sollte man zuallererst immer abklären: Möchte die Person das? Also: Nicht einfach ausreiten, um die holde Maid zu retten. Sondern zuerst abklären, ob es der betroffenen Person recht ist. Und dann konkrete Hilfeleistungen anbieten. Man sollte sich überlegen: Was sind meine Ressourcen, wie kann ich diese Person unterstützen? Es ist zum Beispiel schon eine ziemlich hohe Hürde, wenn man hingeht und fragt: Kann ich dir helfen? Denn die Person weiß vielleicht gar nicht, welche Ressourcen es überhaupt gibt. Besser ist es zum Beispiel konkrete Dinge anzubieten, zum Beispiel: Ich habe Kontakt zu einem Betriebsratsmitglied. Wenn du magst, kann ich dich begleiten. Oder: Ich kann mit jemandem reden, der sich damit gut auskennt, wenn du möchtest. Oder der Person arbeitsrechtliche Informationen geben, ihr sagen, was genau passiert, wenn sie die Sache meldet. Es gibt eine große Bandbreite an Möglichkeiten für ZeugInnen. Grundsätzlich geht es darum, sich zu überlegen, wie Macht und Ohnmacht funktionierten. Warum ist es zum Beispiel gängige Praxis, dass irgendwelche hohen Tiere mit PraktikantInnen alleine abendessen gehen?"
Wie beurteilst du die gesellschaftliche Entwicklung in diesem Zusammenhang? Wo stehen wir aktuell?
„Das Ganze ist vielschichtig. Einerseits ist in den letzten Jahren ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen und eine Ebene sichtbar geworden, die sehr lange unsichtbar war. Auch im Bereich der Arbeit hat sich einiges getan. Zum Beispiel gibt es von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO seit letztem Jahr eine Direktive, nach der das Recht auf Integrität, also das Recht auf Belästigungsfreiheit ein Recht am Arbeitsplatz ist. Das geht in eine gute Richtung. Gleichzeitig wird aber oft auf Hauruck-Lösungen gesetzt, anstatt sich anzuschauen, wie die Gesellschaft transformiert werden kann, sodass sexuelle Belästigung gar nicht mehr vorkommt. Es geht also oft um Kosmetik, man möchte den Anschein erwecken, das Problem zu lösen – nur selten geht es aber darum, das Problem an der Wurzel zu packen. Da sehe ich auf jeden Fall noch Handlungsbedarf. Es gibt also ein Bewusstsein dafür, aber es ist noch ein langer Weg, um dorthin zu kommen, dass dieses Bewusstsein auch tatsächlich umgewandelt wird in etwas, das ganz konkret Menschen schützt."
Der ÖGB-Verlag stellt das Buch „Grauzonen gibt es nicht“ als kostenlose PDF-Version hier zum Download zur Verfügung. Die Print-Version kann man hier bestellen.
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Interview: Dietmar Meister