Solidarität
„Wir bereiten die Kinder fürs Leben vor“
Seit Monaten protestieren ElementarpädagogInnen lautstark für Verbesserungen in Kindergärten und Horten. Es fehlt an Wertschätzung, die Leidtragenden sind vor allem Frauen. Drei Einblicke in die Kinderbildung in Österreich.
Es ist 15.30 Uhr, die Novembersonne taucht noch die letzte Häuserfront des Wallensteinplatzes im 20. Wiener Gemeindebezirk in ein goldenes Licht, während sich über alle anderen bereits der Schatten gelegt hat. Es ist wenige Tage vor dem Lockdown, dem vierten innerhalb von zwei Jahren in Österreich.
Die 4-jährigen Zwillingsmädchen Olivia und Ophelia sausen eingepackt in ihrer Winterkleidung voller Energie über den Platz. Sie kommen mit ihrer Mutter, Maria Dietl, gerade aus einem städtischen Kindergarten in der Wiener Brigittenau.
Betreuungszeiten locken Mütter in der Teilzeitfalle
Um die gleiche Uhrzeit muss Martina Crisinelli ihre 4-jährige Tochter Juna längst vom Kindergarten abgeholt haben. Sie wohnt in Hatting, einem Ort, der 17 Kilometer von Innsbruck entfernt liegt. Der örtliche Kindergarten schließt bereits um 14.30 Uhr und hat nur zweimal pro Woche bis 17 Uhr geöffnet. „Ich hätte Aussichten auf einen 40-Stunden-Job, aber ich bin im Zwiespalt, ob ich ihn annehme. Wenn es rein um die Kinderbetreuung im Kindergarten geht, müsste ich die Stelle absagen, aber meine Mutter hat gesagt, dass sie mich unterstützt“, erzählt sie. Die Großmutter kann nur deshalb auf die Enkelin schauen, weil sie im selben Ort wohnt und seit einem Jahr in Pension ist. Crisinelli weiß, dass es keine Selbstverständlichkeit ist: „Ich wüsste nicht, wie ich das alles hinbekommen sollte, wenn meine Mutter nicht da wäre.“
Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.
In der Zwischenzeit haben sich Olivia und Ophelia mit ihrer Mutter in einem nahe gelegenen Kaffeehaus ein warmes Plätzchen gesucht. Sie bestellen einen Kakao und für die Mutter gibt es einen Cappuccino.
Die Großeltern der Mädchen leben nicht in der Umgebung. Für die Betreuung im Alltag stehen sie also nicht zur Verfügung. „Es heißt ja immer, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen“, sagt Maria Dietl über die Wichtigkeit eines sozialen Netzes für die Kindererziehung. „Für mich ist der Kindergarten das Dorf.“ Der Kindergarten ist tatsächlich mit 150 Kindern sehr groß und die Zwillingsmädchen verbringen 30 Stunden in der Woche dort. Seit die beiden ein Jahr und zehn Monate alt geworden sind, gehen sie dorthin. Dietl war wegen der Größe des Kindergartens zunächst skeptisch, da ihr die Stadt diesen Kindergarten entgegen ihren Wünschen zugeteilt hatte. Da die Eingewöhnung aber so gut funktioniert hat und es den Mädchen im Kindergarten gefällt, ist auch Mama Dietl von der Einrichtung überzeugt.
Extragebühr: 350 Euro für den Kindergartenplatz
Für Martina Crisinelli war die Suche nach einem Krippenplatz hingegen ein wahrer Hürdenlauf. Im Ort selbst gibt es keine Krippe. Sie musste sich daher in Innsbruck umsehen. Erst nach vielen Versuchen fand sie einen Platz für die damals 2-jährige Juna. Seit ihrem dritten Geburtstag geht ihre Tochter nun in den örtlichen Kindergarten, aber auch dort wird eine Extragebühr von 350 Euro verlangt. Einen offiziellen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gibt es österreichweit erst ab dem 5. Lebensjahr. Wollen Frauen mit kleinen Kindern arbeiten gehen und finanziell unabhängig bleiben, müssen sie die Kinderbetreuung selbst organisieren. Die Verantwortung bleibt zumeist an den Müttern hängen.
Wie das andere Mütter im Dorf machen? – „Die bleiben länger zu Hause oder die Großeltern holen die Kinder ab“, erzählt Crisinelli. Doch sie selbst wollte früher ins Arbeitsleben zurück und möglichst bald Vollzeit arbeiten: „Ich will nicht so lange in Teilzeit bleiben. Man hört immer wieder von der Altersarmut bei Frauen, wenn sie in Pension gehen und nur eine Minipension haben.“
Die Krise zwingt Familien zur Improvisation
Im Gegensatz zu Tirol hat Wien eine ausreichende Grundversorgung mit Krippen- und Kindergartenplätzen. Den Dietls blieb damit einiges erspart. Improvisieren mussten sie, seitdem das Coronavirus grassiert. Maria Dietl konnte während des ersten Lockdowns ihre Kinder bereits nach drei Wochen wieder in den Kindergarten geben –da sie mit psychisch erkrankten Menschen arbeitet, gilt sie als Systemerhalterin. In den ersten Wochen teilte sie sich die Kinderbetreuung mit ihrem Partner und arbeitete in der Zeit nur im Nachtdienst. Auch wenn die Gruppen der Zwillingsmädchen wegen Krankheitsfällen gesperrt waren, konnte sie es sich mit Pflegefreistellung und einem entgegenkommenden Dienstgeber einrichten.
Viele hatten am Anfang wirklich Angst.
Dass es in vielen elementaren Bildungseinrichtungen an Personal mangelt, ist auch vor den Zwillingen nicht verborgen geblieben. „Meine Betreue-rinnen haben manchmal keine Zeit, um mit uns zu spielen“, klagt Olivia. Dabei ist das Betreuungsverhältnis in ihrem Kindergarten im Vergleich zu anderen Einrichtungen gar nicht so schlecht: Zwei PädagogInnen, ein/e AssistentIn und ein/e PraktikantIn seien für eine Gruppe von 25 Kindern zuständig.
Eng wird es aber bei Krankheitsfällen, die während der Pandemie und in der Winterzeit verstärkt vorkommen – und das hat natürlich Auswirkungen auf die Betreuung der Kinder. Mit Beginn der Pandemie ist die Herausforderung für das Personal noch einmal größer geworden, schildert Maria Dietl: „Der Kindergarten war durchgehend offen und viele hatten am Anfang wirklich Angst.“ Deshalb hat sie auch großes Verständ-nis, wenn die Beschäftigten ihren Ärger lautstark auf die Straße tragen: „Ich unterstütze die Proteste absolut.“
Das Bild von spielenden Tanten
Von den Herausforderungen in der Elementarpädagogik kann auch Katrin Fuchsbauer ein Lied singen. Sie ist Sonderpädagogin und Personalvertreterin in einem städtischen Kindergarten im Salzburger Stadtteil Itzling. „Wenn das Personal fehlt, wenn die Rahmenbedingungen nicht mehr ausreichend sind, dann stößt man irgendwann an seine Grenzen“, seufzt sie. Neben dem Personalmangel gehe es oft um die Gruppengröße. Die geringe Wertschätzung und die schlechte Bezahlung tragen ein Übriges bei.
Wir sind oft noch immer die ‚Tanten‘, die ein bisschen spielen und viel frei haben. Dieses Bild, dass Kindergartenjahre wichtige Bildungsjahre sind, ist leider in vielen Köpfen noch nicht angekommen.
„Wir sind oft noch immer die ‚Tanten‘, die ein bisschen spielen und viel frei haben. Dieses Bild, dass Kindergartenjahre wichtige Bildungsjahre sind, ist leider in vielen Köpfen noch nicht angekommen“, ärgert sich Fuchsbauer und verweist damit auf ein größeres gesellschaftliches Problem: Die Elementarpädagogik zählt mit einem Frauenanteil von 97 Prozent der fast 63.000 Beschäftigten eindeutig als klassische Frauenbranche. Und wie in allen weiblich dominierten Branchen mangelt es auch in der Elementarpädagogik an Wertschätzung, obwohl die Beschäftigten wichtige, zumeist systemerhaltende Aufgaben erfüllen.
Kindergarten: Die Basis für alles weitere
„Am meisten Spaß macht es mir, im großen Außenbereich zu spielen“, strahlt Ophelia. Der Außenbereich ist eine überdachte Halle mit verschiedenen Spielecken. Olivia hingegen hat den Kaufmannsladen lieber. „Die Kinder haben sich im Kindergarten immer wohlgefühlt“, ergänzt Maria Dietl. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist die gute Arbeit der PädagogInnen.
Fragt man etwa Katrin Fuchsbauer nach ihren konkreten Aufgaben, verändert sich ihre Stimme und Begeisterung ist aus jedem ihrer Worte zu hören: „Grundsätzlich legen wir die Basis für alles Weitere. Wir machen nicht Schulvorbereitung, sondern wir bereiten die Kinder fürs Leben vor. Gerade die ersten Jahre – da lernen sie viel im Kindergarten, worauf sie später aufbauen werden.“ Das Lernen sei noch spielerisch: „Wir schauen, wo die Interessen und Bedürfnisse der Kinder sind, und genau dort setzen wir an. Wenn gerade Dinosaurier interessant sind, dann schauen wir, dass wir das Thema für sie mit allen Sinnen erlebbar machen.“
Corona bremst Entwicklung der Kinder
Die Entwicklung ihrer Kinder ist auch Maria Dietl sehr wichtig. Doch durch die Corona-Regeln im Kindergarten ergeben sich viele Einschränkungen. So sind immer alle Gruppen strikt voneinander getrennt, die Kinder dürfen viele Aufgaben nicht mehr selbstständig ausführen und alle Veranstaltungen wurden abgesagt.
Den jüngsten Lockdown sieht sie vor allem für das Personal schwierig: „Die Pädagoginnen tun mir leid. Sie leisten wirklich viel.“ Ophelia trinkt bei den Worten ihrer Mutter den letzten Schluck aus ihrer Tasse und strahlt mit einem Kakaomund übers ganze Gesicht. Morgen wartet auf sie ein neuer aufregender Tag im Kindergarten und die Beschäftigten werden wieder ihr Bestes geben.
Die Ungewissheit und die Frustration beim Personal werden aber bleiben, wenn sich die Politik nicht bald ihrer Anliegen annimmt. Kinderbildung ist eine große Aufgabe, aber zu wenige wissen sie zu schätzen.