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ÖGB-Bildarchiv

Bäckerlehrling führt das Gebäck aus.

Lehre und Ausbildung

Der Fall des „Saunigels“

Im Winter 1893 starb der Bäckerlehrling Obdržálek – genannt „Saunigel“ (nach einem Schimpfwort für unsaubere Menschen).

Sein Lehrherr, der Besitzer der Austria-Dampfmühle und Großbäckerei, Josef Milaček hatte ihn ohne Schuhe in die Kälte und den Schnee geschickt, um Gebäck auszuliefern und ausstehende Rechnungen einzukassieren.

„Saunigel“ hatte seinen Lehrherren immer wieder um Stiefel gebeten. Dieser hatte stets geantwortet, der Hund im Hof habe das ganze Jahr keine Schuhe an – also brauche Obdržálek auch keine. Deshalb musste sich der Lehrling Fetzen von Salzsäcken um die Füße wickeln. Diese boten jedoch keinen ausreichenden Schutz gegen die Eiseskälte, der Lehrling erkrankte, übergab sich jede Nacht und verlangte schließlich nach einem Arzt. Milaček erwiderte, er werde ihn schon kurieren, nämlich mit einem abgebrochenen Peitschenstock. Sieben Wochen später war der Lehrling tot, gestorben an Lungentuberkulose.

Eine der Auswirkungen des langen Stehens der Bäckerlehrlinge, waren die sogenannten Bäckerbeine. ÖGB-Archiv

Wehrlose Geschöpfe

Die Geschichte von „Saunigel“ griff der Redakteur der Bäcker-Zeitung, Gehilfenobmann und Gewerkschafter Josef Tobola auf. Im Herbst 1893 veröffentlichte er in der Bäcker-Zeitung zwei Artikel über „Lehrlingselend“ und „Lehrlingszüchterei.“ Er berichtete über eine Reihe von Fällen „von haarsträubender Art“, wie die „Menschenschinder“ – gemeint waren die Meister – ihre Lehrlinge behandeln. Nur einer der erwähnten Bäckermeister klagte aber Tobola wegen Ehrenbeleidigung – Josef Milaček. Er stieß sich an der Formulierung „wo irgendwelche Vergewaltigungen der Arbeiter, besonders derart wehrlose Geschöpfe, wie es unsere Lehrjungen sind, vorkommen, darf Herr Milaček im 10. Bezirk nicht fehlen.“

Peitschenschläge

Tobola schilderte die „unmenschliche Behandlung“ der Lehrlinge in der Großbäckerei: Lehrlinge mussten stundenlang 50 Kilogramm schwere Kleiesäcke aus der Mühle über den Hof in die Mehlkammer im 1. Stock schleppen oder den heißen Dampfkessel vom Kesselstein befreien. Er schrieb über lange Arbeitszeiten, die Nichteinhaltung des Nachtarbeitsverbotes und der Sonntagsruhe für Minderjährige und über die schlechte Kost. Im Prozess würde herauskommen, dass die Lehrlinge nur „sehr selten“ in die Schule geschickt wurden, dass die Behandlung der Lehrlinge „streng“ war, dass sie „wegen jeder Kleinigkeit mit der Peitsche geschlagen wurden“, dass sie beim Bau der Mühle mithelfen mussten und dass sich die Lehrlinge lieber mit altem Gebäck angegessen hatten, als mit der „Zuspeis“ wie harten Knödeln, stinkendem Geselchten oder faulem Fleisch. Und es wurde bekannt, dass Milaček schon einmal wegen Misshandlung eines Lehrlings zu einer Geldstrafe von 15 Gulden verurteilt worden war.

Der Prozess

Am 9. März 1894 begann der von Milaček gegen Tobola angestrengte Ehrenbeleidigungsprozess. Tobola bekannt sich nicht schuldig. Trotzdem eine Vielzahl von Zeugen für Tobola aussagten, seine Geschichten bestätigten, sprach der Richter ihn schuldig, Milaček „geschmäht zu haben“ und  verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 100 Gulden oder einem Monat Arrest und zur Übernahme der Kosten des Strafverfahrens.

Lehrlinge in Graz

Als Bäck hat der Bub wenigstens Brot

Nach Bekanntwerden der Zustände schaltete die Gewerkschaftskommission in Zeitungen halbseitige Aufrufe an Eltern und Vormunde: „Lasset eure Kinder und Mündel nicht Bäcker lernen! […] Die halbwüchsigen Buben werden, trotz Verbotes, zur Nachtarbeit eingesetzt, sie werden schrankenlos ausgenutzt, müssen bis zu 19 Stunden am Tag, sieben Tage der Woche, 365 Tage im Jahr arbeiten“. Inwiefern der Aufruf Eltern und Vormünder bei der Berufswahl für ihre Kinder beeinflusste, ist nicht bekannt, aber der Gedanke, „als Bäck hat der Bub wenigstens Brot“ blieb sicher aufrecht. Sogar die konservativen Zeitungen, die Reichspost zeigte sich erschüttert von derartiger Behandlung der Lehrlinge „in unseren modernen Zeiten“ und forderte die „bürgerliche Gesellschaft“ auf, „sich einmütig gegen solche Zustände zu erheben und dieselben öffentlich zu brandmarken“.

Der Besitzer der Austria-Dampfmühle und Großbäckerei, Josef Milaček, blieb weiterhin im Fokus der Gewerkschafter. 1899 rief Josef Tobola mit dem Gehilfenobmann Franz Silberer zum Boykott auf, weil weder die Sonntagsruhe eingehalten, noch freie Tage gewährt wurden. Sie waren kurzfristig erfolgreich, doch die erkämpften Verbesserungen verschwanden im darauffolgenden Jahr wieder und der Kampf begann von neuem.

Josef Tobola setzte sich weiterhin für die Bäckergehilfen ein, arbeitete gemeinsam mit Viktor Adler an der Einigung der „Radikalen“ und der „Gemäßigten“ zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1888/89), wurde 1890 zum Gehilfenobmann gewählt, blieb bis 1897 Redakteur der Bäcker-Zeitung, wurde 1898 Sekretär der Krankenkasse der Bäcker, saß im Aufsichtsrat einer Konsumgenossenschaft und war nebenher auch Gemeinderat.

Er starb mit 59 Jahren am 11. Februar 1922 an einer Lungenentzündung.

Dieser Text erscheint demnächst im Buch zur Geschichte der Lebens- und GenussmittelarbeiterInnen. Vielen Dank an die PRO-GE für die Erlaubnis, den Text vorab zu veröffentlichen.