Steuern und Abgaben
Ohne Lohnnebenkosten kein Sozialstaat
ÖGB-Volkswirt Ernst Tüchler im Interview: Warum die wiederkehrende Forderung nach Senkung der Dienstgeberbeiträge Unsinn ist und was wirklich dahintersteckt
Glaubt man jenen, die es in regelmäßigen Abständen fordern, dann wäre eine Senkung der Lohnnebenkosten quasi die eierlegende Wollmilchsau der Arbeitsmarktpolitik. Mehr Geld für die Arbeitgeber soll diesem (längst widerlegten) Märchen zufolge automatisch auch mehr Arbeitsplätze bedeuten. Warum das nicht stimmt und die Konsequenzen vor allem für den Sozialstaat drastisch wären, erklärt Ernst Tüchler, der Leiter der ÖGB-Volkswirtschaft im Interview.
oegb.at: Fangen wir ganz einfach an: Wozu gibt es Lohnnebenkosten und was sind sie überhaupt?
Ernst Tüchler: Es geht um die solidarische Finanzierung des Sozialsystems durch ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeber. Die Finanzierungsanteile der Arbeitgeberseite sind die Lohnnebenkosten. Würde man sie „Dienstgeberbeiträge” nennen, wäre die Wahrnehmung sofort eine Positive, weil es ja um die soziale Sicherheit aller geht. Der andere Finanzierungsteil sind die Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten, die am Lohn- bzw. Gehaltszettel ablesbar sind.
Was wäre denn die Alternative zur solidarischen Finanzierung?
Möchte man die Finanzierung anders organisieren und trotzdem einen Sozialstaat haben, dann geht das nur über Steuern. Wir wissen aber, dass Länder mit geringen Lohnnebenkosten meist hohe Steuern haben. Kein funktionierendes Sozialsystem zu haben, bedeutet, dass die Kriminalität explodiert – dafür gibt es genug Beispiele. Türkis-Blau hat die Beiträge bei den Landwirten und Unternehmen zu deren Sozialversicherungsträgern gekürzt und lässt sich den Ausfall aus dem Steuertopf bezahlen. Das kostet ungefähr hundert Millionen Euro im Jahr. Das Wissen um die Notwendigkeit der Finanzierung des Sozialsystems ist also schon auch dort vorhanden. Nur selbst bezahlen möchte man nicht.
Es wird immer wieder behauptet, niedrigere Lohnnebenkosten würden neue Jobs schaffen. Stimmt das oder würde das Geld in Wirklichkeit rasch woanders hinfließen? Eventuell sogar in die eigene Tasche?
Natürlich können Unternehmen dieses Geld anders verwenden und viele werden das auch tun. Es gibt ja keine Verpflichtung, dass von den Arbeitgebern zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Bei Aktiengesellschaften oder GmbHs, wo es mehrere Eigentümer gibt, und Vorstände, die Boni kassieren, ist diese Vermutung sogar wahrscheinlich. Es gibt leider auch genügend Beispiele dafür, dass die Börsenkurse steigen, wenn Leute rausgeschmissen werden, weil damit die Erwartung verbunden ist, dass die Gewinne steigen. Und natürlich kann eine Senkung auch einfach nur dazu genützt werden, den Gewinn zu steigern. Wenn Geld verfügbar ist, das in die Taschen der Reichen fließen kann, dann tut es das in der Regel auch.
„Wenn Geld verfügbar ist, das in die Taschen der Reichen fließen kann, dann tut es das in der Regel auch."
Warum kommt man immer wieder auf die Idee, sie zu kürzen?
Wahrscheinlich ist das ein angelernter Reflex. Aber im Kern geht es hier um eine Machtfrage, die gerne von Think Tanks und aggressiveren Unternehmerkreisen betrieben wird: Wenn ArbeitnehmerInnen keine Vollbeschäftigung haben bzw. wenn es keine Sozialversicherung gibt oder nur eine mit ganz schwachen Leistungen und hohen Selbstbehalten, dann sind die Arbeitgeber immer in der Lage, zusätzlichen Druck auf Gewerkschaften und Beschäftigte aufzubauen. Der finanzielle Aspekt steht nur scheinbar im Vordergrund. Tatsächlich handeln sie ja wider besseres Wissen. Gerade im Wirtschaftseinbruch ist das Sozialsystem der Puffer gegen eine Wirtschaftskrise. Länder mit starken Gewerkschaften und guten Sozialsystemen kommen immer besser durch Krisen, das zeigen auch alle Studien. Das gilt im Großen genauso wie im Kleinen. Unternehmen mit Betriebsräten und entsprechender Unternehmenskultur überstehen Krisen nämlich auch nachweislich besser.
„Länder mit starken Gewerkschaften und guten Sozialsystemen kommen immer besser durch Krisen."
Arbeitsminister Kocher könnte es sich offenbar vorstellen, die Lohnnebenkosten für ältere ArbeitnehmerInnen und Einsteiger zu senken, wie er in einem Interview gesagt hat. Was hältst du davon?
Fantasie ist eine schöne Begabung. Aber kann er sich auch vorstellen, woher das Geld dann kommt, dass durch diesen Ausfall fehlt? Irgendjemand muss das ja bezahlen! Die ArbeitnehmerInnen werden das nicht auch noch stemmen können. Sie bezahlen am Ende ja ohnehin schon die gesamte Krise. Dazu kommt, dass ein erheblicher Teil der arbeitenden Bevölkerung immer älter wird, damit würde der Ausfall durch die Kürzung der Lohnnebenkosten immer größer.
Gäbe es finanzielle Möglichkeiten, um sicherzustellen, dass neue Arbeitsplätze entstehen?
Das Konzept der Wertschöpfungsabgabe gibt es schon lange. Mentor dieser Idee war der verstorbene Sozialminister Alfred Dallinger. Es geht darum, den Faktor Arbeit von Steuern und Abgaben zu entlasten und zum Ausgleich die Bemessungsgrundlagen für die Finanzierung des Sozialsystems, von dem natürlich auch die Arbeitgeber und Landwirte profitieren, zu verbreitern. Die Steuerlast wird dadurch nicht nur von Arbeit getragen, sondern verstärkt auch von anderen Wertschöpfungsfaktoren. Wer Arbeitsplätze schafft und viele ArbeitnehmerInnen beschäftigt, wird in diesem Konzept entlastet. Wer das nicht tut, aber hohe Gewinne erzielt, muss dafür einen größeren Beitrag leisten.
ArbeitnehmerInnen tragen ja jetzt schon 80 Prozent der Steuerlast, oder?
Ja. Senkt man die Lohnnebenkosten, dann würde das die Lage zu Lasten der ArbeitnehmerInnen noch weiter verschärfen. Aber in Wahrheit hätten auch die Arbeitgeber nichts davon. Das ganze gesellschaftliche System würde fragiler werden, es gebe mehr Demonstrationen, Streiks und vieles mehr. Als direkte Folge eines desolaten Sozialsystems würde auch die Kriminalität rasant steigen. Wer keinen Ausweg mehr sieht hat auch nichts zu verlieren. Langzeitarbeitslosigkeit ist dann an hohen Gefängnisraten ablesbar.
„Lohnnebenkosten haben ja eine enorm wichtige Aufgabe: Sie finanzieren etwa Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung oder auch das Arbeitslosengeld."
ArbeitnehmerInnen hätten von einer Senkung der Lohnnebenkosten überhaupt nichts. Wäre eine Senkung sinnvoll, von der ArbeitnehmerInnen und Unternehmen gleichermaßen profitieren?
Nein. Das dadurch entstehende Loch in der Finanzierung des Sozialsystems müsste nämlich sofort ausgeglichen werden – oder die Leistungen müssten gekürzt werden. Wie das gehen soll, noch dazu fair, hat bis dato niemand erklärt. Die Lohnnebenkosten haben ja eine enorm wichtige Aufgabe: Sie finanzieren etwa Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung oder auch das Arbeitslosengeld, das in Wirklichkeit ja auch eine Versicherungsleistung ist, für die die ArbeitnehmerInnen selbst bezahlen. Wenn man das Geld zur Finanzierung dieser Einrichtungen, also die Lohnnebenkosten, kürzt, muss eine Kompensation aus anderen Quellen erfolgen – und zwar von den Arbeitgebern. Sie müssen ihren Beitrag leisten.
„Wenn bei der Einlieferung ins Krankenhaus die erste Frage einer privaten Versicherung gilt und nicht dem medizinischen Problem, dann ist auch klar, dass jene, die sich das nicht leisten können, zum Schluss drankommen – wenn überhaupt."
Wäre eine Senkung der Lohnnebenkosten de facto eine massive Gehalts- bzw. Lohnkürzung?
Jedenfalls indirekt. Es wäre eine Reallohnkürzung, weil die Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Sozialsystem dann von den ArbeitnehmerInnen extra zu bezahlen wäre, sofern sie das überhaupt bezahlen können. Wenn bei der Einlieferung ins Krankenhaus die erste Frage einer privaten Versicherung gilt und nicht dem medizinischen Problem, dann ist auch klar, dass jene, die sich das nicht leisten können, zum Schluss drankommen – wenn überhaupt. Das ist die Realität in jenen Ländern, in denen das solidarische Sozialsystem letztlich aus Profitgier geschwächt wurde.