Armut
Am Rande der Existenz: Was es in Österreich bedeutet, arm zu sein
Von Armut betroffen ist nicht nur, wer auf der Straße oder in einem Notquartier schlafen muss. 1.529.000 Menschen sind in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Sie sind vor allem eines: unsichtbar.
Vor wenigen Wochen hat die Statistik Austria neue Zahlen veröffentlicht. Es sind jene aus der sogenannten EU-SILC-Erhebung 2020. Diese Erhebung dokumentiert seit vielen Jahren, wie viele Menschen in einem Land direkt von Armut betroffen oder gefährdet sind, in Armut abzurutschen (Definitionen in der Box am Ende des Textes). 1.529.000 Menschen waren das im Jahr 2020 im reichen Österreich. Doch in diesen Daten sind die aktuellen Auswirkungen der Corona-Pandemie in Bezug auf Einkommen und Armut in Österreich noch nicht enthalten. Die Zahlen werden wohl steigen.
Der ÖGB macht seit geraumer Zeit darauf aufmerksam, dass neben Langzeitarbeitslosen vor allem AlleinerzieherInnen und sogenannte „working poor” besonders gefährdet sind, in Armut abzurutschen und fordert einen kollektivvertraglichen Mindestlohn von 1.700 Euro brutto im Monat - denn höhere Mindestlöhne schützen vor Armut und steigern die Kaufkraft. Als weiteren Schritt im Kampf gegen die Armut fordert der ÖGB die Erhöhung des Arbeitslosengeldes von aktuell 55 auf 70 Prozent des vorigen Einkommens. Denn die aktuelle Arbeitsmarktlage wird Österreich krisenbedingt noch länger begleiten.
Die Hoffnungen verblassen
Die Erwartungen vieler Österreicherinnen und Österreicher in Hinblick auf ihre finanzielle Situation sind für die kommenden Monate eher pessimistisch – auch das geht aus den aktuellen Zahlen der Statistik Austria hervor. 2019 rechneten nur acht Prozent der Gesamtbevölkerung mit einer Verschlechterung bei ihrem Einkommen im nächsten Jahr, aktuell sind es 15 Prozent. 21 Prozent sagen, dass ihr Haushaltseinkommen weniger geworden ist.
Wichtig ist, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben.
Innerhalb der Gruppe der armuts- oder ausgrenzungsgefährdeten Menschen haben sogar 30 Prozent ein noch geringeres Haushaltseinkommen als zuvor. In zumindest 21 Prozent der Fälle sind die Gründe dafür eindeutig: Jobverlust oder Konkurs des eigenen Unternehmens. Arbeitslosigkeit verfestigt sich zurzeit stärker als sonst. Vor allem viele Langzeitarbeitslose oder Ältere haben es schwer, wieder einen Job zu finden.
„Umso wichtiger ist es, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben“, so Martina Lackner, ÖGB-Expertin für Sozialpolitik. „Um wirksam Armut zu bekämpfen, müssen die Leute in Beschäftigung gebracht werden.“
Mehr als ein Drittel der ArbeitnehmerInnen in Österreich macht sich aktuell jedenfalls Sorgen um den Erhalt des Arbeitsplatzes. Die Coronakrise hat die Hoffnungen der Menschen getrübt.
Frauen und Kinder in der Armutsfalle
Im Jahr 2020 gab es in Österreich 289.000 sogenannte Ein-Eltern-Familien. In 85 Prozent der Fälle sind es Mütter, die sich allein um die Kinder kümmern. Weil Frauen schlechter bezahlt werden als Männer und sich neben der Betreuung der Kinder als Alleinerzieherin kaum Vollzeit-Stellen ausgehen, leben diese Frauen sehr oft am Existenzminimum. Die Teilzeitquote bei Frauen liegt bei 48 Prozent. Und der Gender-Pay-Gap, also der Einkommensunterschied zwischen den Geschlechtern, liegt bei 19,4 Prozent.
Die ÖGB-Frauen fordern schon lange einen flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen und einen Rechtsanspruch auf einen Gratis-Kinderbetreuungsplatz für jedes Kind. Der Rechtsanspruch würde die Gefahr, in Armut abzurutschen, reduzieren.
Frauen haben zudem nach wie vor eine um 40 Prozent niedrigere Pension als Männer. Umso wichtiger wäre es, wesentliche Verbesserungen im Pensionsrecht zu erzielen, etwa durch eine bessere Anrechnung der Kindererziehungszeiten, aber auch bereits im Erwerbsleben – Stichwort: Raus aus der Teilzeit.
385.000 Kinder und Jugendliche bis zum 19. Lebensjahr sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.
Wenn Frauen zu wenig verdienen, hat das auch Folgen für ihre Kinder: 385.000 Kinder und Jugendliche bis zum 19. Lebensjahr sind armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. 77.000 davon leben in manifester Armut.
Und: Armut ist vererbbar. In Österreich gibt es laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2018 eine geringe soziale Mobilität. Das bedeutet, dass Einkommen, Bildung und sozioökonomischer Status von einer zur nächsten Generation weitervererbt werden. Kinder aus ärmeren Verhältnissen haben daher im wohlhabenden Österreich schlechte Karten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie arm bzw. armutsgefährdet werden, ist groß.
Working poor – arm trotz Arbeit
300.000 Beschäftigte in Österreich galten schon vor der Pandemie als „working poor“. Das bedeutet, dass sie von den Einkünften aus ihrer Arbeit nicht leben können. 1,3 Millionen ArbeitnehmerInnen in Österreich arbeiten in Teilzeit, in geringfügiger Beschäftigung, mit befristeten Arbeitsverhältnissen, freien Dienstverträgen, als PraktikantInnen oder als LeiharbeiterInnen. Dazu kommen noch jene ArbeitnehmerInnen, die gar keine Anstellung haben.
Prekäre Arbeitsverhältnisse sind vor allem instabil, unsicher, was Entlohnung und Arbeitszeit betrifft, und erfüllen kaum die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen. Doch genau diese prekären Arbeitsverhältnisse nehmen zu.
„Wir müssen die Flucht aus dem Arbeitsrecht stoppen“, fordert ÖGB-Expertin Martina Lackner. „Denn es sind vor allem die finanziellen Faktoren, die dazu führen, dass die Armutsgefährdung doch so hoch ist – die Arbeitgeber wollen es immer billiger haben und durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt nehmen die ArbeitnehmerInnen vieles in Kauf.“ Der wichtigste Punkt: „Wir müssen schauen, dass es in Österreich ein Erwerbseinkommen gibt, mit dem das Auskommen möglich ist.“
Wir müssen schauen, dass es in Österreich ein Erwerbseinkommen gibt, mit dem das Auskommen möglich ist.
Bin ich arm? Ab wann man von Armut spricht
In Summe waren in Österreich im Jahr 2020 rund 1.529.000 Menschen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet.
Zum einen sind das Menschen, die über weniger als 60 Prozent des sogenannten Medianeinkommens (mittleres Einkommen) verfügen. Sie gelten als armutsgefährdet. Für 2020 lag das mittlere Nettohaushaltseinkommens bei 26.555 Euro im Jahr, also 2.213 Euro im Monat (12 Mal). Die Armutsgefährdungsschwelle betrug 2020 somit 15.933 Euro für einen Einpersonenhaushalt, das sind 1.328 Euro pro Monat (12 Mal). Pro Kind erhöht sich dieser Wert um 398 Euro, für jeden weiteren Erwachsenen werden 664 Euro hinzugerechnet.
Und in manifester Armut leben Menschen, auf die zumindest vier der folgenden neun Kriterien zutreffen. Im Haushalt bestehen Zahlungsrückstände bei Miete, Betriebskosten oder Krediten; es ist finanziell nicht möglich, unerwartete Ausgaben zu tätigen; einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren; die Wohnung angemessen warm zu halten; jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise zu essen; einen PKW oder eine Waschmaschine oder ein Fernsehgerät oder ein Telefon bzw. Handy zu besitzen. In Österreich leben rund 233.000 Menschen in manifester Armut.