Corona
Demokratie in Quarantäne
In Krisenzeiten wird vieles möglich, was davor keine Mehrheit gefunden hätte. Es kommt aber auch die Zeit danach.
Eine „Zumutung für die Demokratie“ beklagte Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, eine „neue Normalität“ begrüßte Österreichs Regierungschef Sebastian Kurz, in seinem Dunstkreis wurde sogar von „Maßnahmen am Rand des demokratischen Modells“ fantasiert. Dass Merkel und Kurz aus der gleichen Parteienfamilie stammen, ist angesichts ihrer unterschiedlichen Interpretationen der Lage fast überraschend.
Ein schmaler Grat
Unbestritten ist, dass fallweise harte und mitunter schmerzhafte Maßnahmen nötig sind, um in Zeiten der Pandemie Herr der Lage zu bleiben. Entscheidend ist aber die Frage: Wie ist das mit Demokratie und Mitbestimmung – zentrale Anliegen der Gewerkschaftsbewegung – zu vereinbaren? Für Willi Mernyi belegen diese Zitate vor allem eines: „Es zeigt, wie schmal der Grat ist, auf dem man zwischen Demokratie und Machtrausch entlangtänzelt und wie hart der Kampf gegen den Absturz sein kann, wenn man auf der richtigen Seite bleiben will“, so der Leitende Sekretär des ÖGB.
Im schlechtesten Fall werden autoritäre Tendenzen ausgelebt und Machtfantasien umgesetzt – ein Blick auf Europa und den Rest der Welt reicht, um zu erkennen: Jede Krise wird ausgenützt. Diesmal wird eben unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Corona-Pandemie die Demokratie zumindest vorübergehend geschwächt. Während die Freiheiten der Menschen (notwendigerweise) eingeschränkt werden, bauen Regierende ihre oft massiv aus. „Das erste Opfer sind dabei viel zu oft die Grundrechte der BürgerInnen“, warnt Mernyi.
Regieren per Verordnung
Dass US-Präsident Donald Trump gerne per „Executive Order“ regiert, wird oft – und zu Recht – kritisiert. Aber auch in Österreich wird seit Beginn der Corona-Krise bevorzugt mit Verordnungen das Leben der Menschen im Land bestimmt und einschneidend verändert. Das Parlament samt seinen gewählten Abgeordneten als gesetzgebende Kraft wurde zuletzt vielfach de facto ausgeschlossen. Viele Entscheidungen hat die Regierung im Alleingang gefällt, entsprechende Texte wurden dann viel zu spät veröffentlicht.
Für eine fundierte Reaktion, bevor das Angekündigte zur Wirklichkeit wird, ist in solchen Fällen keine Zeit. „Demokratie bedeutet Teilhabe und Mitgestaltung der Gesellschaft“, heißt es im Grundsatzprogramm des ÖGB; in Betriebsräten, Gewerkschaften oder Arbeiterkammern lebt man das vor. Auf parlamentarischer Ebene war dies in letzter Zeit oft nicht möglich – und mitunter wohl gar nicht gewollt.
„Maßnahmen, die während der Krise akzeptabel sind, dürfen kein Dauerzustand werden, nur weil manch Regierender es für praktisch halten könnte.“
„So bin ich nicht”
Als Folge einer solchen Politik muss die Polizei als Exekutive vermeintliche Anweisungen der Legislative umsetzen, die sie häufig nur als Zitate von Pressekonferenzen kennt. Ostern ist als übles Beispiel noch in trauriger Erinnerung: Der Eingriff in die Freiheit der Menschen erfolgte per Pressekonferenz. Später stellte sich heraus, dass nur der Wunsch der Vater des Regierungsgedanken war.
Gesetzgebung per Pressekonferenz funktioniert eben nicht. „So bin ich nicht“, würde die Demokratie wohl sagen. Kritik daran wird aber von höchster Stelle als „juristische Spitzfindigkeit“ abgetan; selbst dann, wenn Höchstgerichte aktiv werden müssen und vieles davon als rechtswidrig erkennen. Erschwerend kommt hinzu, dass Österreichs Parlament traditionell als verlängerter Arm der Regierung bei der Umsetzung von Gesetzesvorhaben handelt, statt umgekehrt – die Verwaltung bestimmt also über die Entstehung von Gesetzen. Das war so nicht geplant.
Was möglich ist, wird auch gemacht
Contact Tracing, Corona-App und etliches mehr – viele Maßnahmen dienen der Überwachung der Menschen, vieles davon ist während der Pandemie jedenfalls hilfreich, manches davon auch nachvollziehbar. Die große Gefahr: Ist die Krise vorbei, bleibt die Überwachung mit völlig neuen Argumenten trotzdem.
„Maßnahmen, die während der Krise akzeptabel sind, dürfen kein Dauerzustand werden, nur weil manch Regierender es für praktisch halten könnte“, warnt der Leitende ÖGB-Sekretär Mernyi. Was Friedrich Dürrenmatt in seinen „Physikern“ beschrieben hat, ist damit aktueller denn je: Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Oder, wie Mernyi sagt: „Wenn etwas möglich ist, dann wird es früher oder später auch gemacht. Das gilt für großartige technische Errungenschaften genauso wie für demokratiefeindliche Fantasien. Ein aktiver und schützender Umgang mit der Demokratie ist alternativlos, wenn man sie bewahren will.“
Diktatur in Europa
Ein sorgenvoller Blick auf die Demokratie ist aber kein Spezifikum der Corona-Zeit. „Österreich selbst hat vor weniger als hundert Jahren die Gräuel der Diktatur erlebt, einige nahe gelegene Länder noch vor wenigen Jahrzehnten“, erinnert Willi Mernyi, der auch Vorsitzender des Mauthausen Komitees Österreich ist. Griechenland litt von 1967 bis 1974 unter einer Militärdiktatur, Spanien entkam erst 1978 nach qualvollen Jahrzehnten dem Regime von Francisco Franco. „Und selbst jetzt ist Europa noch nicht vollständig demokratisch: In Belarus zeigt ein autoritäres und diktatorisches Regime gerade seine hässlichste Fratze“, verweist Mernyi auf die aktuelle Katastrophe im Herzen des Kontinents.
Der tägliche Kampf lohnt sich
Die Demokratie sei weder perfekt, noch habe sie eine Antwort auf alle Fragen, aber sie sei besser als jede andere Regierungsform, erklärte Winston Churchill im November 1947. Das hat auch heute unverändert Gültigkeit – und dafür lohnt es sich zu kämpfen, appelliert Willi Mernyi: „Mit der Demokratie muss behutsam umgegangen, für ihre Werte jeden Tag aufs Neue eingestanden werden. Vor allem in Zeiten, in denen der einfache und schnelle Weg so verlockend erscheint.“