Internationale Umfrage
Die Krise vor der Krise
Auch ohne Corona ist ein wirtschaftliches Umdenken dringend notwendig
Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat heuer, als die Pandemie in Europa gerade erst Italien erreicht hatte, eine weltweite Umfrage zu Erwartungen und Wünschen an die Politik, durchgeführt. Insgesamt wurden 16 Länder befragt, in denen 56 Prozent der Weltbevölkerung leben. Die Antworten entlarven große Zukunftsängste rund um Arbeit und finanzielle Sicherheit.
Düstere Prognosen
Laut den Umfrageergebnissen schaut es düster aus. Mehr als zwei Drittel der Menschen waren schon vor Corona besorgt über den Verlust ihres Arbeitsplatzes (67 Prozent), drei Viertel glaubten nicht, dass der Mindestlohn für ein menschenwürdiges Leben ausreicht (76 Prozent) und annähernd die Hälfte der Menschen hielt es für unwahrscheinlich, dass die nächste Generation eine menschenwürdige Arbeit findet (42 Prozent). Die Annahme, dass es ohne die Corona-Pandemie keine soziale Krise gäbe, ist also falsch. Aber woher stammen die pessimistischen Erwartungen und Ängste der ArbeitnehmerInnen?
Die Krise vor der Krise
Durch Inflation, Lohndumping und steigende Wohnkosten ist das Leben für viele der Befragten einfach nicht mehr leistbar oder bestenfalls gerade noch leistbar. 47 Prozent geben nämlich an, sich „grundlegende Dinge des Lebens“, wie Wohnung, Lebensmittel und Strom nicht mehr leisten zu können und 43 Prozent sagen, ihr Haushaltseinkommen sei hinter den Lebenserhaltungskosten zurückgeblieben. Dazu kommt noch die steigende Arbeitslosigkeit, von der mehr als jede dritte befragte Person direkt oder indirekt betroffen ist.
Wir leben in einem System, das auf Krisen aufbaut und von Krisen profitiert – nur profitieren nicht alle davon, sondern nur eine kleine Gruppe von bereits sehr wohlhabenden Personen.
Hier stellt sich die Frage, wem nutzt denn so ein Wirtschaftssystem noch, wenn es scheinbar so vielen immer schlechter geht? Wer übernimmt Verantwortung, wenn sich die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen in einer Notlage befindet? „In Wahrheit leben wir in einem System, das auf Krisen aufbaut und von Krisen profitiert – nur profitieren nicht alle davon, sondern nur eine kleine Gruppe von bereits sehr wohlhabenden Personen“, analysiert Marcus Strohmeier die Ergebnisse der Studie. Strohmeier leitet das Internationale Referat im ÖGB und koordiniert die Arbeit mit dem IGB.
Kein Vertrauen mehr in die Regierung
Große Enttäuschung und mangelndes Vertrauen in die Regierung dominieren die Zukunftsperspektiven der TeilnehmerInnen. Jede dritte befragte Person (36 Person) ist wütend oder verzweifelt in der Frage, ob die Regierung auf die Bedürfnisse ihrer Familie eingeht. Grund dafür sei ein zu großer Einfluss von Unternehmen und Reichen auf die Politik und Weltwirtschaft, denn nahezu drei Viertel (71 Prozent) der Menschen sind der Ansicht, dass das Wirtschaftssystem ihres Landes die Reichen begünstigt.
Der Wunsch der Befragten ist eindeutig: Der Staat muss die soziale Absicherung und finanzielle Sicherheit für seine BürgerInnen durch eine angemessene Altersversorgung, ein zugängliches Gesundheitssystem, ausreichend Leistungen bei Arbeitslosigkeit und ein durchlässigeres Bildungssystem gewährleisten.
Symptombekämpfung reicht nicht mehr
Es braucht Maßnahmen, die über Symptombekämpfung hinaus reichen. Während der letzten Monate haben funktionierende sozialstaatliche Strukturen wesentlich zur erfolgreichen Bewältigung erster Auswirkungen der Krise beigetragen. Gleichzeitig verfehlt das Wirtschaftssystem die Grundbedürfnisse vieler Gruppen.
Jedem Menschen steht ein würdevolles Leben ohne plagende Existenzängste zu.
„Da muss sich insgesamt etwas ändern“, schließt Strohmeier aus den IGB-Ergebnissen. „Jedem Menschen steht ein würdevolles Leben ohne plagende Existenzängste zu,“ steht für ihn außer Frage. Aber dennoch kann eine Regierung allein nicht die Bedürfnisse und Sorgen aller Menschen abdecken. Schon gar nicht, wenn Wirtschaftswachstum und die finanzielle Absicherung der Menschen ständig gegeneinander ausgespielt werden. „Hier kommt es darauf an, dass Sozialpartner, wie die Gewerkschaften, immer am Verhandlungstisch dabeisitzen und mitentscheiden dürfen“, so Strohmeier.
Über die Umfrage
Die weltweite Umfrage des IGB 2020 wurde in 16 Ländern auf verschiedenen Kontinenten durchgeführt und spiegelt die Meinungen von 3,1 Milliarden Menschen über 18 wider.
Zwischen dem 12. Februar 2020 und dem 9. März 2020 wurden die TeilnehmerInnen befragt. In jedem Land wurden Quotenstichproben verwendet, um eine repräsentative Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Region widerzuspiegeln.
Die Ausarbeitung und Auswertung wurde von „YouGov“ übernommen.
Text: Sara Velic