Sozialpartnerschaft
Muss man für ein gutes Sozialsystem kämpfen, Herr Tálos?
Politikwissenschafter Emmerich Tálos im Interview über die Bedeutung von Sozialstaat und Sozialpartnerschaft
Ohne unseren Sozialstaat, soviel ist sicher, würden wir wesentlich schlechter dastehen. Für den Experten ist klar: Es lohnt sich zu kämpfen – weil die Alternative nicht nur teurer wäre, sondern für uns alle eine düstere Aussicht.
Solidarität: Sozialpartnerschaft ist als Begriff bekannt. Aber was verbirgt sich dahinter?
Emmerich Tálos: „Die Sozialpartnerschaft hat einen wesentlichen Anteil am Ausbau des Sozialstaats, den wir in der Zweiten Republik sehen, und damit an der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs. Sie steht für einen Abtausch der Interessen zwischen Lohnarbeit und Kapital. Ohne diesen Abtausch wäre es kaum möglich gewesen, ein so breites System zu entwickeln, das nicht nur unselbstständig, sondern auch selbstständig Erwerbstätige integriert."
Trotzdem wird sie immer wieder angegriffen.
„Diese Zusammenarbeit wurde vor allem in Zeiten der schwarz-blauen Regierungen geschwächt. Unter Bundeskanzler Schüssel wurde sie bereits weitgehend ausgeschaltet, insgesamt allerdings erst unter Kurz und Strache. Hätte diese Regierungskonstellation überlebt, wäre die Sozialpartnerschaft vor dem endgültigen Ende gestanden."
Hätte diese Regierungskonstellation überlebt, wäre die Sozialpartnerschaft vor dem endgültigen Ende gestanden.
Mit welchen Folgen?
„Die sozialen Bedingungen in unserer Gesellschaft hätten sich deutlich zulasten der unselbstständig Erwerbstätigen und der Schwachen verändert."
Aber gerade in Krisen zeigt sich, wie wertvoll das System ist, oder?
„Unser Sozialstaat hat sich nicht nur in der Krise als zentraler und unverzichtbarer Faktor unserer Gesellschaft bewährt. Das hätte weder der kapitalistische Markt noch familiäre Unterstützung geschafft. Ohne unser hervorragendes Gesundheitssystem hätte Österreich die Pandemie weit schlechter überstanden. Ähnlich ist das beim System der Arbeitslosenversicherung. Wir haben aber auch gesehen, dass Armutsgefährdung für viele Menschen trotzdem nicht verhindert wird."
Das hätte weder der kapitalistische Markt noch familiäre Unterstützung geschafft.
Ein gutes System also, das trotzdem mehr braucht?
„Ja. Aber nicht nur das soziale Sicherungssystem bedarf der Anpassung an veränderte soziale und wirtschaftliche Bedingungen. Auch Maßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung oder die Absicherung von Frauen und Alleinerzieherinnen sind erforderlich. Selbst in einem so reichen Land wie Österreich betrifft das Armutsrisiko einen beträchtlichen Teil der Menschen. Auch das Gesundheits- und Pflegesystem ist ein großes Thema für die Zukunft – institutionell, personell und finanziell."
Muss man dafür kämpfen?
„Auf jeden Fall. Das fällt einem nicht in den Schoß. Vieles wird als selbstverständlich angesehen. Es wird wenig reflektiert, was dieser Sozialstaat an tiefgreifenden Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen gebracht hat und wie das entstanden ist."
Die Sozialpartnerschaft ist die Zusammenarbeit der großen wirtschaftlichen Interessenverbände Österreichs. Auf Arbeitgeberseite sind das die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) und die Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ). Auf ArbeitnehmerInnenseite sind das die Arbeiterkammer (AK) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB). Eine faire und kooperative Zusammenarbeit der Sozialpartner mit der Regierung ist für das österreichische Sozialsystem wesentlich.
Aber das kostet alles auch viel Geld.
„Es ist sicher auch eine finanzielle Frage. Es bedarf der Absicherung der Finanzierungsgrundlage. Aber nicht nur. Es geht auch darum, wie sich unsere Gesellschaft zukünftig weiterentwickeln wird. Ob die Spannungen weiter zunehmen – die Folge wäre ein Auseinanderdriften der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Mitte würde zerfallen, Arme und Schwache würden auf der Strecke bleiben."
Rechnen sich die nötigen Investitionen also?
„In jedem Fall. Welche Auswirkungen hätte es, wenn wir zum Beispiel das Arbeitslosengeld anheben? Wenn Menschen auch in Arbeitslosigkeit adäquat materiell abgesichert sind, ist dies auch aus volkswirtschaftlicher Sicht sehr sinnvoll. Der Konsum würde angekurbelt und damit zum Funktionieren der Wirtschaft beitragen. Je besser die Systeme der sozialen Sicherung ausgebaut sind, desto mehr bringt es der Gesellschaft."
Sich hinzusetzen, die Füße auszustrecken und den Sozialstaat als selbstverständlich abhaken – das reicht nicht.
Sozialer Frieden und der Wohlstand basieren maßgeblich auf dem, was Sozialpartner und Sozialstaat geleistet haben. Das eine wird es ohne das andere nicht geben, oder?
„Davon bin ich überzeugt. Es bedarf steter Bemühungen um den Sozialstaat. Wir können nicht ausschließen, dass es auch in Zukunft Regierungskonstellationen gibt, die den Sozialstaat und die Sozialpartnerschaft infrage stellen. Sich hinzusetzen, die Füße auszustrecken und den Sozialstaat als selbstverständlich abhaken – das reicht nicht. Es gibt in einer kapitalistischen Gesellschaft immer unterschiedliche Interessen. Manche gehen in Richtung des neoliberalen Vorbilds USA und eines sehr schwachen sozialstaatlichen Systems. Dem gilt es gegenzuhalten: Geht es dem Sozialstaat gut, geht es uns allen gut."
Emmerich Tálos ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Sozialstaat, die Sozialpartnerschaft und der Austrofaschismus.