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Politikwissenschafter Emmerich Tálos im Interview über die Bedeutung der Sozialpartnerschaft Markus Zahradnik

Interview

So überlebt die Sozialpartnerschaft

Wie es nach der Nationalratswahl politisch weitergeht, ist noch unklar – das gilt auch für die Sozialpartnerschaft. Emmerich Tálos erklärt, worauf es jetzt ankommt.

Er ist der Experte für die österreichische Sozialpartnerschaft: Emmerich Tálos. Im Interview mit oegb.at analysiert der Politikwissenschafter, wie es in Österreich nun politisch weitergehen kann, warum die Industriellenvereinigung kein Sozialpartner ist, und was passieren muss, damit die Sozialpartnerschaft auch in zehn Jahren noch eine Rolle spielen kann.

Dietmar Meister: Herr Tálos, was bedeutet das Ergebnis der Nationalratswahl für die österreichische Sozialpartnerschaft?

Emmerich Tálos: Wie es mit der Sozialpartnerschaft weitergeht, ob sie vollends lahmgelegt und überhaupt an Bedeutung einbüßen wird oder im Vergleich zu früheren Tagen eher punktuell in politischen Entscheidungsprozessen eine Rolle spielen wird, lässt sich in den ersten Tagen nach der Wahl noch nicht sagen.

Anders als in den Nachkriegsjahrzehnten, in denen die Regierungskonstellation nicht den Einfluss sozialpartnerschaftlicher Mitgestaltung absteckte, zeigen sich in den letzten Jahrzehnten merkliche Veränderungen: Es gab zum einen Phasen weitgehender Ausschaltung sozialpartnerschaftlicher Mitgestaltung, dies vor allem unter den ÖVP-FPÖ-Koalitionen. Zum anderen gab es Beschränkungen des politischen Einflusses der Sozialpartner, wie an der schwarz-grünen Regierung ersichtlich ist.

Wovon wir aufgrund des Wahlergebnisses ausgehen können, ist, dass die Regierungskonstellation eine wesentliche, aber auch unterschiedliche Rolle für die Entwicklung der Sozialpartnerschaft spielen wird.

Sollte es zu einer blau-schwarzen Koalition kommen, könnte dies – wie schon vor einigen Jahren – eine Ausschaltung sozialpartnerschaftlichen Einflusses überhaupt zur Folge haben. Im Fall einer schwarz-roten Koalition ist – wie bereits in der gleichen Koalition in den Jahren 2007-2018 – eine Fortdauer sozialpartnerschaftlichen Einflusses erwartbar, wenn auch in einem geringeren Ausmaß als in den Nachkriegsjahrzehnten. Bei einer Koalition von ÖVP und SPÖ mit den NEOS, die die Sozialpartnerschaft bisher immer abgelehnt haben, könnte sozialpartnerschaftliche Mitgestaltung möglicherweise eher nur noch beschränkt zum Tragen kommen. Punktuelle Mitgestaltung gäbe es vermutlich bei einer Dreierkoalition mit den Grünen.

Welchen Einfluss hatten die Sozialpartner unter der türkis-grünen Bundesregierung?

Die Vorgängerregierung Türkis-Blau hat der Sozialpartnerschaft unter anderem mit der Ausschaltung sozialpartnerschaftlicher Mitgestaltung und der Abschaffung der traditionellen Mehrheit der Dienstnehmervertreter:innen in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung enorm zugesetzt. Vieles davon hat auch in der Folgezeit überlebt. Was die Regierung von ÖVP und Grünen in den letzten Jahren allerdings von der alten türkis-blauen Bundesregierung unterscheidet, ist, dass sie explizit die Einbindung der Sozialpartner an einigen Stellen im Regierungsprogramm ansprach, so zum Beispiel die Einbindung der Sozialpartner durch die Regierung in den gesellschaftlichen Dialog über die Zukunft der Arbeit sowie bei Einführung eines Bildungskontos oder die Schließung von Lücken bei der Lohnfestlegung.

Diese Absichtserklärungen von ÖVP und Grünen bedeuteten noch keine Rückkehr zur traditionellen Rolle der Sozialpartnerschaft. Konkrete Ansätze eines sozialpartnerschaftlichen Revivals zeigten sich in der Corona-Pandemie mit ihren enormen Auswirkungen in Form sprunghaft angestiegener Arbeitslosigkeit. In einem viel größerem Ausmaß als in der vorausgehenden Banken- und Finanzkrise haben die Sozialpartner in Windeseile ein spezifisches Kurzarbeitsmodell mit der Regierung vereinbart, das sowohl für die Arbeitnehmer:innen als auch Arbeitgeber:innen eine Win-Win-Situation darstellte. Der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit wurde dadurch deutlich eingebremst und viele Unternehmen wurden vor Schließungen bewahrt.

Im Zeitraum von den 1960er bis in die 1980er Jahre hatte die Sozialpartnerschaft als politischer Gestaltungsfaktor ihre Hochblütephase. 

Emmerich Tálos, Politikwissenschafter

Auf der Arbeitnehmer:innen-Seite gehören der ÖGB und die Arbeiterkammer zu den Sozialpartnern, auf der Seite der Arbeitgeber die Wirtschaftskammer und die Landwirtschaftskammer. Wie hat sich das historisch entwickelt?

Sozialpartnerschaft beruht nicht auf einer gesetzlichen Basis, sondern ausschließlich auf freier Übereinkunft der beteiligten Akteure. Neben drei Kammern ist dies der freie Interessenverband ÖGB. Die Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen diesen Interessenorganisationen hat ihre Ausformung im Wesentlichen ab Ende der 1950er- bzw. Anfang der 1960er-Jahre erfahren. Ansätze dazu gibt es allerdings bereits im Entwicklungsprozess nach 1945 in mehrfacher Hinsicht.

Hier sei insbesondere auf die Zusammenarbeit und Interessenabstimmung in der Wiederaufbauphase verwiesen, die neben der Sozialpolitik vor allem in den fünf Lohn- und Preisabkommen zwischen 1947 und 1951 ihren Niederschlag fand. Darin zeichnen sich bereits wesentliche Komponenten des sozialpartnerschaftlichen Musters ab, nämlich ein mehrdimensionales Kooperationssystem zwischen Regierung und den genannten Dachverbänden der Interessenvertretungen sowie die Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Ziele durch die beteiligten Akteure.

Nach ihrer Etablierung erfuhr die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit eine beachtliche institutionelle Ausprägung. So waren beispielsweise im Zeitraum 1971 bis1987 die sozialpartnerschaftlichen Akteure unter anderem in 223 Beiräten, Kommissionen, Ausschüssen vertreten. Zudem erfuhr die österreichische Sozialpartnerschaft im Zeitraum von den 1960er bis in die 1980er Jahre als politischer Gestaltungsfaktor ihre Hochblütephase.

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Zuletzt wurde von Einzelpersonen auch die Industriellenvereinigung den Sozialpartnern zugerechnet – wie sind solche Aussagen aus Ihrer Sicht zu werten?

Die Industriellenvereinigung (IV) zählt traditionell nicht zu den vier Sozialpartnern. Sie wurde allerdings durch personelle Überschneidungen mit der Industriellenvertretung innerhalb der Wirtschaftskammer in einschlägige politische Willensbildungsprozesse eingebunden. Als freie Interessenvertretungsorganisation, die sich explizit selbst als Lobbying-Organisation auf österreichischer und europäischer Ebene versteht, hat sie in der jüngeren Entwicklung beträchtlich an Bedeutung gewonnen. Auf EU-Ebene wurde sie zur wichtigsten österreichischen Unternehmerorganisation. Ihre Mitgliederstruktur hat sich wesentlich verändert: International tätige Großunternehmen spielen in der IV eine bedeutende Rolle. Neben der FPÖ und den NEOS zählt die IV heute zu jenen Organisationen, die die Sozialpartnerschaft ablehnen.

Die Sozialpartner drängten auf den Ausbau der Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, auf die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Sozialdumping.

Emmerich Tálos, Politikwissenschafter

Wird es die Sozialpartnerschaft auch noch in zehn und in zwanzig Jahren geben oder ist das Modell bereits überholt?

Ich gehe davon aus, dass Sozialpartnerschaft auch noch in den nächsten Jahrzehnten bestehen könnte, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Wenn wir auf die Entwicklung vor den schwarz-blauen Regierungskonstellationen zurückblicken, können wir festhalten, dass Sozialpartnerschaft nicht nur unter Schönwetterbedingungen, sondern auch in Krisensituationen wie der Banken- und Finanzkrise wesentlich zu Problemlösungen beigetragen hat. Sozialpartnerschaftlich gestaltete Lohnpolitik hat mit Rücksichtnahme auf gesamtwirtschaftliche Erfordernisse sowohl die Export- als auch die Konsumnachfrage belebt und zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beigetragen. Die Sozialpartner drängten auf den Ausbau der Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, auf die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Sozialdumping.

Studien bestätigten für den Zeitraum 1990-2012, dass Sozialpartnerorganisationen zur Standortsicherung beitragen. Volkswirtschaften mit hoher sozialpartnerschaftlicher Intensität wiesen eine überdurchschnittliche makroökonomische Performance auf und federten negative Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise besser ab. Sie schnitten bei wichtigen Indikatoren besser ab als die anderen Ländergruppen, und zwar betreffend die allgemeine Arbeitslosenrate und die Arbeitslosenrate der jungen Bevölkerung, die Beschäftigungsquote, reales Wirtschaftswachstum und die Einkommensverteilung.

Kurzum: Sozialpartnerschaft als Modell gesellschaftlicher Interessenpolitik ist keineswegs überholt. Es könnte allerdings ausgeschaltet werden, wie wir es bereits für kurze Zeit erlebt haben – mit der Konsequenz der Verstärkung der sozialen Ungleichheit und der Schieflage in der Interessendurchsetzung zugunsten der Unternehmer.

Sozialpartnerschaft als Modell gesellschaftlicher Interessenpolitik ist keineswegs überholt.

Emmerich Tálos, Politikwissenschafter

Damit Sozialpartnerschaft auch in Zukunft eine Rolle spielt, hat es zur Voraussetzung, dass die Regierung sich nicht als Blockade für sozialpartnerschaftliche Mitgestaltung erweist, das Vertrauen zwischen den Sozialpartnern gestärkt wird, die Sozialpartner wieder ihren Beitrag zur Problemlösung unter voraussichtlich komplexen Krisensituationen leisten. Im Bild gesprochen: Wichtig für das Überleben der Sozialpartnerschaft ist, dass sie dazu beiträgt, dass der soziale Grundwasserspiegel in unserer Gesellschaft wieder steigt.

Zur Person: Univ.-Prof. Dr. Emmerich Tálos i.R. war zweieinhalb Jahrzehnte lang Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien, ist ausgewiesener Experte für die österreichische Sozialpartnerschaft und hat zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht.