Verteilungsgerechtigkeit
Was heißt hier "Mittelschicht"?
Die meisten Menschen sehen sich als Teil der "Mittelschicht". Zurecht?
„Die einzige Partei, die für die Mittelschicht kämpft“, war vor Kurzem auf einem SPÖ-Sujet zu lesen. In den letzten Jahren war es aber nicht nur die SPÖ, die sich als Vertreterin der Mittelschicht präsentierte. Auch alle anderen Parteien versuchten mit ihren Botschaften die Mittelschicht anzusprechen: Entlastet müsse sie werden, gefördert, geschützt – darüber sind sich alle einig. Wer aber zur Mittelschicht gehört und wer nicht, wird in der Regel nicht dazugesagt – mit Absicht.
Willkürliche Berechnung
Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff Mittelschicht jenen Teil der Bevölkerung, der in einem sozialen Schichtungsmodell zwischen Ober- und Unterschicht angesiedelt ist. Zur Einteilung können wirtschaftliche, bildungsbezogene, berufsabhängige oder andere Kriterien herangezogen werden. Die am weitesten verbreitete Definition von Mittelschicht orientiert sich am Medianeinkommen*. Dabei wird ein Einkommensbereich für die Mittelschicht bestimmt, wobei die untere Grenze dieses Bereichs in der Regel bei 60 Prozent des Medianeinkommens gezogen wird, die obere hingegen je nach Studie irgendwo zwischen 150 und 200 Prozent. Wie groß die Mittelschicht ist, hängt also davon ab, wo man diese Grenzen setzt bzw. ist – wie der Soziologe Stephan Lessenich sagt – „alles eine Frage der Abgrenzung jener Bevölkerungsgruppe, die man als Mittelschicht bezeichnen möchte“.
Wer nicht arm ist, ist Mittelschicht
Statistik Austria definiert als „mittlere Einkommen“ alle Einkommen zwischen 60 und 180 Prozent des Medianeinkommens. Die Untergrenze entspricht in diesem Modell der Armutsgefährdungsschwelle, die Obergrenze dem Dreifachen davon. Als armutsgefährdet gilt in Österreich, wer allein wohnend im Monat über weniger als 1.185 Euro verfügt. Wer mehr hat – egal ob 1.200 oder 3.000 Euro im Monat – ist Mittelschicht. Und weil das Einkommen gewichtet wird, kann es sein, dass ein allein lebender Mittelschichtangehöriger im Monat über gleich viel Einkommen verfügt wie eine vierköpfige Familie – und alle zählen zur Mittelschicht.
Der Mittelstand als Synonym
Der auf die ständische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verweisende Begriff Mittelstand wird heute meist für Gewerbetreibende verwendet. Genauer gesagt werden darunter in der Regel kleine und mittlere Unternehmen bezeichnet, also Unternehmen mit zehn bis 249 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von zwei bis 50 Millionen Euro. Obwohl sich also der Begriff Mittelstand auf Unternehmen bezieht, wird er häufig bewusst mit dem Begriff Mittelschicht vermengt. Dies soll zur Annahme verleiten, die Interessen von Mittelschicht und Mittelstand seien die gleichen. „Das führt dazu, dass sich eine sehr große Wählergruppe angesprochen fühlt, wenn Parteien Maßnahmen für den Mittelstand wie Steuersenkungen (…) ankündigen, egal ob es für den Einzelnen wirklich als Betroffenen zutrifft oder nicht“, sagt der Politikwissenschafter Peter Filzmaier.
Die wirkliche Trennlinie
Zusammengefasst: Es scheint so, als zielten jene, die von der Mittelschicht sprechen, nicht nur auf möglichst viele Wählerstimmen ab, sondern auch darauf, in den Köpfen der Menschen eine künstliche Trennlinie zwischen der Mitte und denen, die unten sind, entstehen zu lassen. Eine Trennlinie, die von der eigentlich zentralen Trennlinie ablenken soll. Nämlich von jener, die zwischen den wenigen, die oben sind, und allen anderen verläuft. Würde man statt des Einkommens das Vermögen als Bestimmungsgröße für die Verteilung heranziehen, würde sich die Mittelschicht augenblicklich in Luft auflösen. Weil nämlich die reichsten fünf Prozent der Menschen in Österreich knapp die Hälfte des Gesamtvermögens besitzen. Die andere Hälfte des Vermögens teilen sich die restlichen 95 Prozent der Bevölkerung.
* Das Medianeinkommen ist der Wert, der die Bevölkerung in eine Hälfte mit höherem und eine Hälfte mit niedrigerem Einkommen teilt.