In Memoriam Walter Stern
Flüchtling, Spion, Nazijäger, Betriebsrat – alles in einem Leben
Walter Stern wurde fast 100 Jahre alt und hat vieles erlebt. Den Glauben an seine Ideale hat er auf seinem abenteuerlichen und gefährlichen Weg aber nie verloren.
Walter Stern (geboren am 11. April 1924) wuchs in ärmlichen Verhältnissen in seiner Heimatstadt Wien auf. Der Vater betrieb im Keller eine Sortieranstalt für Textilabfälle, die Mutter half ihm und kümmerte sich um die Söhne und den Haushalt. Ihr ganzer Stolz war, dass die kleine feuchte Zwei-Zimmerwohnung mit einer Küche, fließend Wasser und einem WC ausgestattet war. Ihr Traum nach einer Wohnung mit eigenem Badezimmer ging nie in Erfüllung. Schuld daran waren die Nationalsozialisten. Sie ermordete das jüdische Ehepaar in Konzentrationslagern.
Kindheit im Austrofaschismus
Walter Sterns Eltern sympathisierten mit den Sozialdemokraten, seine Mutter ging mit ihm zu den Maiaufmärschen. Solange, bis die Austrofaschisten sie im Jahr 1933 verboten. Die Sozialistische Jugend demonstrierte trotzdem. Nicht wie zuvor vor dem Rathaus, sondern geheim im Wienerwald. Auf der Rückfahrt wartete jedoch die Polizei auf sie. Unter den Verhafteten war auch Sterns Bruder Emil. Er wurde im Kommissariat Wehrgasse (1050 Wien) festgehalten, wo auch Walter Stern im Jahr 1950 nach dem Oktoberstreik verhört wurde. Seine Frau Elfriede sollte später genau dort als Polizeiangestellte arbeiten.
Zeuge der Februarkämpfe 1934
Am 12. Februar 1934 standen einander Austrofaschisten und die sozialdemokratische ArbeiterInnenschaft mit scharfer Munition gegenüber. Die Faschisten kämpften für einen autoritären Staat, die ArbeiterInnen für die Demokratie.
In seinen Erinnerungen schreibt Walter Stern darüber: „Als ich an diesem Tag zu Mittag von der Schule nach Hause ging, standen in der Gumpendorfer Straße die Straßenbahnen still. Am nächsten Tag gab es keine Schule. (…) Das E-Werk hat gestreikt. (…) In der Nacht hörte man die Schüsse vom Gürtel her, Gewehr- und Maschinengewehrfeuer.“
Die Austrofaschisten und das Bundesheer schossen auf die Verteidiger der Ersten Republik und auf die BewohnerInnen in den Gemeindebauten. Nach wenigen Tagen hatten die Faschisten die Grundfeste der Republik ausgebombt und den sogenannten „Ständestaat“ errichtet. Gewerkschaften wurden verboten und Hunderte WiderstandskämpferInnen verhaftet, verurteilt und einige hingerichtet. Walter Stern erinnert sich noch heute an deren Namen: Georg Weissel, Karl Münichreiter und Koloman Wallisch.
Zeuge des Juliputsches 1934
Am 25. Juli 1934 drangen Nationalsozialisten in das Bundeskanzleramt ein und erschossen den diktatorischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuss, danach verschickten sie aus den Senderäumen der RAVAG (Österreichische Radio-Verkehrs AG) Falschmeldungen.
Walter Stern erinnert sich, wie er diesen Tag erlebt hat. „Für den Nachmittag war das Mitropacup-Spiel Admira gegen Bologna im Wiener Stadion angesetzt. Eine Gruppe von Buben aus dem Park beschloss, zu Fuß von Margareten bis ins Stadion zu gehen. (…) Ein Polizeikordon versperrte uns den Weg. (…).“ Die Buben fuhren aber einfach mit der Straßenbahn bis zum Stadion. „Auch dort war Polizei mit Stahlhelmen, Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten. (…) Als sie (Anm. italienische Mannschaft) sich aber aufstellten und das Publikum mit dem italienischen Faschistengruß begrüßten, wurden sie vom ganzen Stadion ausgepfiffen.“
Am gleichen Abend schickten ihn seine Eltern auf Sommerlager nach Kranjska Gora im heutigen Slowenien. Sie sagten: „Wenn die Nazis wirklich kommen, ist wenigstens der Walter vorerst im Ausland.“
Zeuge des sogenannten „Anschlusses“
Die Nationalsozialisten kamen am 12. März 1938. Gemeinsam mit seiner Familie hörte er am 11. März die letzte Rede des austrofaschistischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg „Gott schütze Österreich“ und die Bundeshymne.
Stern erinnert sich auch daran: „Mein Vater erblasste, meiner Mutter standen die Tränen in den Augen.“ Es hieß „Juden Koffer packen“. (…) „Und dann kamen die persönlichen Demütigungen. Der Lebensmittelkaufmann (…), bei dem wir jahrelang einkauften, ließ uns (…) ausrichten, dass er keinen Wert mehr auf uns als Kundschaft lege.“ (…) „Wir, die jüdischen Schüler (…), wurden ausgeschult und in der sogenannten ‚Judenschule‘ (…) zusammengefasst.“
Das Glück war unbeschreiblich. Ich war noch nicht 16, ich ahnte nicht, dass das Leben nicht so einfach ist.
„Das Überleben hat gelohnt – Erinnerungen eines Metallarbeiters und Betriebsrates“, 2008, ÖGB-Verlag
Flucht vor den Nationalsozialisten
Die Eltern kümmerten sich darum, dass ihre Söhne Österreich verließen. Zwei Brüdern gelang die Ausreise nach England, einer versuchte illegal in die Schweiz zu gelangen.
Walter Stern sah seine Eltern am 21. August 1939 das letzte Mal am Südbahnhof, als er sich von ihnen verabschiedete und nach Palästina aufbrach. Seine Eltern überlebten den Holocaust nicht.
Nach einer abenteuerlichen Reise erreichte Walter Stern Haifa – er erinnert sich „Das Glück war unbeschreiblich. Ich war noch nicht 16, ich ahnte nicht, dass das Leben nicht so einfach ist.“ Der zweite Weltkrieg tobte da bereits.
Eine unvorhersehbare Wendung in Palästina
Er zog in einen Kibbuz, arbeitete am Bau, half auf den Feldern und in den Obstgärten. Solange, bis der Krieg nach Palästina kam. Stern ging nach Tel Aviv, fand Arbeit und hatte Kontakt mit dem kommunistischen Jugendverband. Schließlich meldete er sich im Jahr 1942 freiwillig zur englischen Armee. Zu seinen Aufgaben galt das Säubern der Minenfelder in der Wüste, die Wiederherstellung der Stromversorgung, die Betreuung der Wasserversorgung. Er erhielt eine Waffenausbildung und lernte Brücken bauen. Schließlich wurde er per Schiff in den Süden Italiens geschickt. Hier nahm sein Leben eine vollkommen unvorhersehbare Wendung.
Walter Stern tauschte die englische Uniform gegen eine amerikanische und wurde Teil der Vorläuferorganisation der CIA, des Office of Strategic Services (OSS). Er wurde in Partisanenkampf, Fallschirmflug und im Schnellverfahren zum Funker ausgebildet.
Die Jagd nach Nationalsozialisten
Im Frühjahr 1945 landete er über Umwege in Linz. Walter Stern wurde der Abteilung zugeteilt, die mit der Aufklärung des Falls der 13 in Mauthausen ermordeten, amerikanischen Offiziere betraut war. Es gelang ihnen, den Lagerkommandanten Franz Ziereis auf einer Almhütte zu entdecken. Er versuchte zu fliehen und wurde angeschossen, doch bevor er starb, gab er noch umfangreiche Informationen zu Protokoll. Mit deren Hilfe gelang es, auch August Eigruber, einen persönlichen Freund Hitlers, zu erwischen. Er wurde im Mauthausen-Hauptprozess zum Tode verurteilt und am 28. Mai 1947 hingerichtet.
Man kann so manchen Glauben verlieren, aber den Glauben an die eigene Kraft, an die eigenen Möglichkeiten, sollte man behalten.
„Das Überleben hat gelohnt – Erinnerungen eines Metallarbeiters und Betriebsrates“, 2008, ÖGB-Verlag
Die Rückkehr nach Wien
Nach einem halben Jahr in Linz, kehrte Stern zurück ins zerstörte Wien. Er zog in eine Villa der OSS und schlief dort das erste Mal in seinem Leben in einem eigenen Zimmer. Von hier aus fuhr er gemeinsam mit einem Kriminalbeamten durch Deutschland und versuchte wieder Kriegsverbrecher auszuforschen.
Im Herbst 1946 beendete Stern seine Tätigkeit für die OSS, machte erstmals Urlaub und fand schließlich eine fixe Anstellung bei der Firma Goerz. Er wurde 1951 zum Betriebsrat und im Jahr 1955 zum Betriebsratsvorsitzenden im Metallbetrieb gewählt. Stern kämpfte leidenschaftlich für seine KollegInnen, stand an der Spitze eines Streiks, rang um soziale Verbesserungen.
Die Betriebsratsprotokolle liegen heute im Institut für historische Sozialforschung. Darin sind Herausforderungen und Erfolge vermerkt sind. Es sind Protokolle, die deutlich machen, wie schwierig es war Verbesserungen im Betrieb durchzusetzen, etwa die Einführung des Weihnachtsgeldes und Errungenschaften für berufstätige Frauen im Betrieb.
Im Jahr 1984 ging er in Pension und lebt mit seiner Frau Elfriede am Stadtrand Wiens. Trotz seines hohen Alters ist er ein kritischer Mensch geblieben, mit besonderer Wertschätzung gegenüber den arbeitenden Menschen. Er war in den letzten Jahren ein unermüdlicher Zeitzeuge in Schulen und Universitäten. Und er ist heute noch der Meinung, „Man kann so manchen Glauben verlieren, aber den Glauben an die eigene Kraft, an die eigenen Möglichkeiten, sollte man behalten.“
Walter Stern ist Anfang Oktober 2022 verstorben.
Anlässlich „100 Jahre Betriebsrätegesetz“ im Jahr 2019 entstand ein Podcast mit Walter Stern.
Die Zitate in diesem Text stammen aus der von Sabine Lichtenberger redaktionell betreuten Autobiografie „Das Überleben hat gelohnt – Erinnerungen eines Metallarbeiters und Betriebsrates“, erschienen im Jahr 2008 im ÖGB-Verlag.