Rechte und Pflichten am Arbeitsplatz
"Menschlichkeit und Marktwirtschaft sind nicht kompatibel"
Ken Loach, Filmregiseur, im Interview über seinen neuen Film "Sorry We Missed You" und die Arbeitsbedingungen in der Pflege und bei den PaketzustellerInnen
In SORRY WE MISSED YOU, der im Wettbewerb des 72. Filmfestivals in Cannes uraufgeführt wurde und beim 27. Filmfest Hamburg Deutschlandpremiere feierte, thematisiert Ken Loach erneut die Missstände unserer modernen Welt und gibt den einfachen Leute eine Stimme.
Nach dem 2016 mit der Goldenen Palme ausgezeichneten ICH, DANIEL BLAKE porträtieren Loach und sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty nun in dem bewegenden Sozialdrama SORRY WE MISSED YOU eine Familie, die an den Bedingungen der globalisierten Arbeitswelt zu zerbrechen droht.
Wie sind Sie auf die Idee für SORRY WE MISSED YOU gekommen?
Ken Loach: Nach ICH, DANIEL BLAKE dachte ich, dass das vielleicht der letzte Film gewesen wäre, aber als wir für unsere Recherchen Essensausgaben besuchten, wurde uns erst so richtig klar, wie viele der Menschen, die dorthin kommen, eigentlich „Arbeit“ haben. Teilzeitarbeit, kleine Jobs, Zeitarbeit, Ich-AGs, Provisionsjobs, oft so schlecht bezahlt und auf eigenes Risiko, dass es nicht fürs Leben reicht. Das ist eine neue Form der Ausbeutung. Die sogenannte ‚Gig Economy’ mit Honoraraufträgen, Kleinjobs oder Beschäftigung über Agenturen tauchte immer wieder und immer häufiger in Pauls und meinen alltäglichen Gesprächen auf. Daraus formte sich Stück für Stück die Idee für einen weiteren gemeinsamen Film, bei dem man die Verwandtschaft und den Bezug zu ICH, DANIEL BLAKE nicht leugnen kann.
Die Technik ist neu, die Ausbeutung aber ist so alt wie die Menschheit.
Die Ausbeutung von Arbeitskraft auf Kosten der Menschen und der Menschlichkeit ist ja kein neues Problem.
Loach: Es ist nur insofern neu, als dass modernste Technologie verwendet wird. Hochentwickelte Technologie und Vernetzung sorgen dafür, dass einem Kurierfahrer die Wege vorgeschrieben werden und der Kunde in Echtzeit über den Status seiner Lieferung und die voraussichtliche Auslieferung bei ihm an der Tür informiert wird. Diese Informationen sorgen für einen enormen Druck. Das Resultat ist, dass der Lieferfahrer sich die Seele aus dem Leib hetzen muss, um die technologisch geschaffenen Möglichkeiten zu erfüllen, während er gleichzeitig nur noch ein Sklave dieser Technik ist und schlecht bezahlt wird. Die Technik ist neu, die Ausbeutung aber ist so alt wie die Menschheit.
Wie haben Sie sich auf diesen Film und diese spezifische Branche der selbständigen Kurierfahrer vorbereitet?
Loach: Paul hat die meiste Recherche betrieben, und wir haben uns dann gemeinsam mit Leuten getroffen, die diese Jobs machen. Die Kurierfahrer waren allerdings oft besorgt und wollten nicht zu viel verraten, weil sie Angst um ihren Job hatten. In die Lieferdepots zu kommen, war ebenfalls eine schwierige Sache und wir hatten Glück, dass wir auf einen hilfsbereiten Manager aus einem Depot gestoßen sind, der uns sehr präzise Hinweise auf die Abläufe und die Gestaltung solcher Depots gegeben hat. Die anderen Fahrer im Film sind zudem selbst Kurierfahrer oder waren es. Sie wussten also ganz genau, worauf es in diesen Depot-Szenen ankam. Sie kannten den Zeitdruck, die Anspannung und die Hektik der Paketverteilung in den Depots.
Was hat Sie am meisten überrascht?
Loach: Eindeutig die Unsicherheit dieser Jobs und wie viele Stunden man in solchen Modellen arbeiten muss, um überhaupt über die Runden zu kommen. Diese Menschen sind auf dem Papier selbstständig, aber nur auf dem Papier. Und wenn etwas schief läuft, tragen sie das volle Risiko. Und dass etwas falsch läuft, kann jederzeit passieren, und dann bekommen sie Sanktionen oder Strafen auferlegt. Für Pflegerinnen wie Abby ist es zudem so, dass sie zwölf Stunden lang für ihre Pflegebesuche unterwegs sind, aber nur sechs oder sieben Stunden Mindestlohn bezahlt bekommen.
Im privaten Sektor ist es viel schwieriger, sich gewerkschaftlich zu organisieren als im öffentlichen Dienst.
Nicht nur Rickys, sondern auch Abbys Arbeitskraft wird systematisch ausgebeutet und das, obwohl sie ja im staatlich subventionierten und bezahlten Pflegebereich tätig ist?
Loach: Der Arbeitgeber ist eben oft eine Agentur. Die Pflegearbeit wird über die öffentliche Hand an Agenturen oder private Pflegedienste verteilt und die bekommen diese Aufträge, weil sie den besten Preis bieten. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass das Pflegeamt mit Absicht ignoriert, dass dieser günstige Preis nur durch Ausbeutung der Menschen möglich ist, die die Arbeit letztlich erledigen. Hinzukommt, dass es im privaten Sektor viel schwieriger ist, sich gewerkschaftlich zu
organisieren als im öffentlichen Dienst. Da gibt es wenigstens noch ordnungsgemäße Verträge.
Wie liefen die Dreharbeiten in Newcastle ab?
Loach: Wir haben wie üblich chronologisch gedreht, und die Schauspieler wussten nicht, wie die Geschichten ihrer Charaktere enden. Jede einzelne Sequenz war neu für sie, wobei wir bei den Proben die Dynamik in der Familie schon festgelegt hatten. Anschließend haben wir ziemlich zügig gedreht, in weniger als sechs Wochen. Eine der größten Herausforderungen war das Paketdepot. Wir haben dafür im Grunde das Depot wie ein echtes Depot laufen lassen und wie bei einem Dokumentarfilm gedreht. Wir haben uns geeinigt, wer die Pakete aus dem „Sortierer“ bekommt, wer die Fahrer sind, die mit ihren Vans in die Halle kommen und was wann und wie abzulaufen hat. Diese Choreographie war in diesem lauten Umfeld einer Fabrikhalle nicht ganz leicht, aber es hat wundervoll funktioniert. Man kann sehen, dass diese Leute wissen, was sie tun. Alles sollte möglichst echt sein. Und genau das galt auch für die Aufnahmen außerhalb des Depots auf den Straßen von Newcastle.
Menschlichkeit und Marktwirtschaft sind nicht kompatibel.
Welche Fragen stellt SORRY WE MISSED YOU?
Loach: Ist dieses System nachhaltig? Ist es nachhaltig, dass wir unsere Einkäufe von einem Mann geliefert bekommen, der sich 14 Stunden am Tag ins Zeug wirft? Ist das besser, als wenn wir unsere Einkäufe selbst erledigen? Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der Menschen unter so einem enormen Druck und für so wenig Geld arbeiten müssen, nur damit wir es uns noch ein bisschen leichter machen? Es ist auch nicht so, dass hier die Marktwirtschaft versagt, sondern ganz im Gegenteil, all das ist eine logische Konsequenz der Marktwirtschaft, die eben noch nie am Menschen oder am Kunden interessiert war, sondern nur am Profit. Lebensqualität ist zwar ein Versprechen der Marktwirtschaft, aber ein leeres, denn im Endeffekt wird immer an der Qualität oder an den Menschen gespart, um das einzige entscheidende Wettbewerbskriterium – nämlich, die Kosten niedrig zu halten – zu erfüllen. Menschlichkeit und Marktwirtschaft sind nicht kompatibel. Den Preis dafür müssen Menschen wie Ricky, Abby und ihre Familien zahlen. Diese Gedanken, diese Ansichten und Fakten sind zwar wichtig und ein Teil des Films, aber wenn das Publikum nicht mitfühlt mit diesen Menschen auf der Leinwand, dann würden diese Ideen auch nicht ankommen. Insofern ist gerade das mitfühlende Moment, die Authentizität der Darstellung so wichtig.