Lehrausbildung
Lehrstellen fehlen, nicht BewerberInnen
Während die Wirtschaftsseite beklagt, es gäbe zu wenig gut qualifizierte Jugendliche, fehlen in Wahrheit mehr als 15.000 Lehrstellen
„Wir fühlen uns vergessen, wir fühlen uns im Stich gelassen." Das sind Aussagen, die die Gewerkschaftsjugend derzeit häufig von Jugendlichen hört, berichtet die Vorsitzende der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) Susanne Hofer Ende März bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl. Die Probleme bei den Lehrlingen reichen vom Distance Learning und der technischen Ausstattung bis zu mangelnden Vorbereitungsmöglichkeiten auf Lehrabschlussprüfungen. „Ein Jahr nach der Pandemie muss garantiert sein, dass jeder die Lehrabschlussprüfung schafft", fordert Hofer. Von politischer Seite ist bisher allerdings nicht ausreichend Unterstützung gekommen.
Ö1-Mittagsjournal mit Susanne Hofer, Vorsitzende der Gewerkschaftsjugend, und AK-Präsidentin Renate Anderl nachhören:
Mehr als 15.000 Lehrstellen fehlen
Nicht nur für Lehrlinge, auch für Lehrstellensuchende ist die Lage derzeit alles andere als erfreulich. Die Arbeiterkammer (AK) zählt aktuell 20.825 Lehrlinge ohne Lehrstelle in einem Betrieb. Das sind deutlich mehr als die offiziell kolportierten 6.519 Lehrstellensuchenden. Gewerkschaft und AK beziehen bei ihren Berechnungen auch Lehrlinge in überbetrieblicher Ausbildung und solche, die beim Arbeitsmarktservice (AMS) in einer Schulung sind, in die Gesamtzahl mit ein. „Viele arbeitssuchende junge Menschen scheinen nicht in der Statistik auf. Wir haben über 7.000 junge Menschen in der überbetrieblichen Lehrausbildung, wo es ja auch das Ziel ist, diese jungen Menschen in die Betriebe zu vermitteln“, erklärt die Jugendvorsitzende. „Und da müssen auch die Betriebe dahinter sein und die jungen Leute ausbilden.“ Insgesamt ergibt das eine Lehrstellenlücke von 15.553.
Anforderungen an Lehrlinge unrealistisch
In manchen Unternehmen bewerben sich 3.000 Jugendliche auf ein paar Lehrstellen. Laut der Initiative „Zukunft Lehre Österreich“ seien aber viele BewerberInnen nicht ausreichend qualifiziert. ÖGJ-Vorsitzende Hofer stellt klar: „Welche Qualifikationen soll ein Lehrling mitbringen? Ein 15-Jähriger hat einen Pflichtschulabschluss und ist nicht fertig ausgebildet. Genau deshalb will er ja eine Lehre machen – um ausgebildet zu werden.“
Ein 15-Jähriger hat einen Pflichtschulabschluss und ist nicht fertig ausgebildet. Genau deshalb will er ja eine Lehre machen, um ausgebildet zu werden.
Dass viele Lehrstellen überrannt sind und andere nicht besetzt werden können, führt Hofer auf unzureichende Berufsorientierung zurück: „Noch immer strömt der Großteil der LehrinteressentInnen auf die gleichen Top-3-Lehrberufe hin. Was wir brauchen, ist eine funktionierende Berufsorientierung mit Beginn der Schule, ebenso wie eine Förderung der Interessen und Talente junger Menschen.”
Vorschläge liegen auf dem Tisch
Zur Entschärfung der Situation und im Hinblick auf den Herbst, wo sich die Lage zu verschlechtern droht, fordern AK und ÖGJ ausreichend Plätze in der überbetrieblichen Ausbildung sowie ausreichende Ausbildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten im Zusammenhang mit der Ausbildungspflicht bis 18. Zudem wird eine Freistellung vom Betrieb für Lerntage, Unterstützung für die Lehrabschlussprüfung und eine verstärkte Aufnahme von Lehrlingen im öffentlichen Dienst gefordert. Finanziert werden könne dies mithilfe des EU-Wiederaufbaufonds. „Die Vorschläge liegen seit dem letzten Jahr auf dem Tisch - man muss nur zugreifen", richtete Hofer ihren Appell an die Regierung.